Selbstverständnis und Rituale

Die Casa Nostra definiert sich selbst nicht als kriminelle Organisation, sondern als Geheimgesellschaft. Sie versteht Santa Trinità – und in erweitertem Sinne San Pietro – als „ihre“ Heimat, im buchstäblichen Sinne: als ihr Haus. Sie regiert über lokale Potentaten, über Leute, die jeder kennt und jeder um einen Gefallen fragen kann, und dafür im Gegenzug einen Gefallen verlangt. Der Staat oder andere Banden werden im besten Fall als Mitbewerber, im schlechtesten Fall als Störenfriede verstanden, die sich aus privaten Angelegenheiten heraushalten sollen.
Ein wichtiger Baustein der Legitimität der Casa Nostra in Santa Trinità war daher immer das Versprechen, ihren Mitgliedern und Assoziierten Schutz gegen Übergriffe zu versprechen. Insofern ist die Casa Nostra eine pervertierte Zunft, die gewisse Dienste und Arbeiten für sich monopolisiert und diejenigen, die nicht zu ihr gehören, aus dem Markt ausschließen will – wobei die Hand schnell an Messer und Pistole sitzt. Einer der Grundsätze der Casa Nostra ist, dass die Clans sich nicht gegenseitig bekriegen, bestehlen oder verheirateten Frauen einer anderen Familie nachschauen. Ein Angriff auf einen Angehörigen einer Familie wird immer als Angriff auf die gesamte Gesellschaft verstanden.
In derselben Art und Weise schweigen sich die Bandenmitglieder über Komplizen aus. Außerhalb der Casa Nostra sprechen sie nie über interne Angelegenheiten – selbst wenn sie gefangen genommen und gefoltert werden. Die Casa Nostra hält als Faustpfand nicht nur Familienangehörige in der Hand, sondern wird beim Bruch der Silenza (das Konzept des Schweigens) verfolgt und getötet.
Trotz ihrer brutalen Methoden, ihrer kriminellen Machenschaften und des Terrors, den sie bei ihren Gegnern erzeugt, bezieht die Casa Nostra ihre Stärke aus dem paradoxen Versprechen, dass sie Sicherheit bietet. Das gilt nicht nur für Übergriffe auf Leib und Leben. Die Gesellschaft sorgt für alte und verletzte Mitglieder, sucht Arbeit und Stellen für jüngere und bietet eine gefährliche, jedoch profitable Karriere an. Einwohner, die sich der Casa Nostra anschließen, tun das nicht vorrangig aus materiellen Überzeugungen. Ein Clanangehöriger, der der Organisation als junger Mann beitrat und es bis zum Sottopadrino brachte, sollte später sagen: „Vor der Schönen Gesellschaft war ich ein Niemand. Danach senkte man den Kopf, wenn ich durch die Straße ging. Das war jeden Preis wert.“
Aus diesen Gründen zelebriert die Gesellschaft sich selbst durch einen eigenen Jargon, eigene Zeichen und eigene Symbole. Es handelt sich um identitätsstiftende Praktiken, die die Zugehörigkeit der Mitglieder zu Familien und Gesellschaft unterstreichen. Zu den bekanntesten Ritualen gehört der Initiationsritus, der nur innerhalb der Casa Nostra bekannt ist. Soci, die sich bewährt haben, und deren Mut und Verlässlichkeit durch Aufgaben und Prüfungen bestätigt wurde, können in die Gesellschaft als Colitò eingeführt werden, wenn zwei andere Colitì sich für sie einsetzen und bezeugen, dass er weder mit Behörden zusammenarbeitet noch mit Beamten oder Soldaten verwandt ist. Über die Aufnahme entscheidet zuletzt der Padrino einer Familie, in die der Neue aufgenommen werden möchte und den Aufnahmeritus anleitet.
Üblicherweise werden neue Colitì zu einem Bankett in den Familiensitz eingeladen. Auf einem Tisch muss er auf einen Dolch, eine Pistole und ein Heiligenbild schwören. Die Schwurformel leitet sich aus dem Kodex der Casa Nostra ab, der danach als Leitlinie des Gesellschaftslebens gilt. Der Padrino nimmt die Schwurformel ab, nimmt den Dolch, und schneidet den Neuzugang (die Körperpartie unterscheidet sich unter den Familien, meistens handelt es sich um den Daumen, bei den Lupini ist es aber beispielsweise die Unterlippe). Der Padrino tunkt das Heiligenbild danach in das Blut des Aufgenommenen und verbrennt es anschließend vor den Augen aller Beteiligten. Die Familien stimmen darin überein, dass dieses Ritual die komplette Hingabe des neuen Colitò an den Clan demonstriert. Bei Verrat soll der neue compa’re „brennen wie der Heilige“, zugleich soll der Vorgang betonen, dass sein altes Leben null und nichtig ist. Der Padrino entscheidet dann über einen Spitznamen. Das Ritual endet mit einem gemeinsamen Mahl, bei dem das neue Familienmitglied einen Schluck aus dem Kelch des Padrino trinken darf.
In den folgenden Wochen wird der neue Colitò umfangreich in die Geschichte, Regeln und Rituale der Gesellschaft eingeführt. Zum Kodex der Casa Nostra gehört auch eine Einhaltung der „Sitten“. Trunksucht, sexuelle Freizügigkeit (Homosexualität inbegriffen), Zuckerabhängigkeit oder Geschwätzigkeit disqualifizieren jeden compa’re und schließen ihn von höheren Rängen aus. Gefühlsschwankungen und Ungehorsam gelten ebenfalls als Ausdruck eines Mannes, der sich nicht unter Kontrolle hat.
Den Familien dürfen nur Männer beitreten. Auch Blutsverwandte innerhalb der Familien müssen das Initiationsritual bestehen, bevor sie vollen Zugang zu allen Bereichen des Gesellschaftslebens erhalten, die Anforderungen sind jedoch deutlich geringer als bei externen Zugängen. In diesem Zusammenhang sind auch weibliche, nahe Verwandte zugelassen. So gab es in einigen Familien die eine oder andere „Saggia“, die als Schwester, Mutter, Tante oder Großmutter dem Padrino zur Seite standen.
Die Casa Nostra kennt darüber hinaus eigene Wörter in Zeichensprache, um sich stumm zu unterhalten. Bewährte Colitì lassen sich darüber hinaus Tätowierungen stechen, die auf Gefängnisausbrüche, erfolgreiche Tötungen oder ihre Loyalität zu einer bestimmten Familie hinweisen, für Außenstehende aber kaum zu deuten sind.