Die Osteria „Sturione“

Das Viertel der Fischer und Arbeiter ist der dichtbewohnteste Stadtteil Palatinas. Mit dem handelspolitischen Niedergang der Republik hat das Militär und die Waffenmanufaktur hier deutlich an Einfluss gewonnen. Die Cittadella und das Arsenal sind militärisches Sperrgebiet.
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Marco Foscari
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Marco Foscari »

Seht Ihr, so schnell regelt sich das!

meint Liscita noch, bevor Gioia an Leocornos Tisch Platz nimmt. Dann notiert er die Bestellung, geht kurz in die Küche, ruft irgendeinen Namen - die Gäste wollten das so, sie hörten gerne, wenn der Gastwirt ganz laut den Namen des Koches rief, das gab das behagliche Gefühl von Tradition, obwohl man sich auch einfach ganz normal hätte unterhalten können - und gibt die Bestellung weiter.

Sekunden später kommt er wieder, geht zur Theke, und zieht eine Flasche Casazza-Wein aus einem der Fächer dahinter. Der Gastwirt schenkt zwei Gläser ein, bringt sie anschließend zum Tisch, an dem Gioia und Leocorno sitzen.


So, Sieri, das ist ein feines Weinchen aus dem Landgut der Gulana, ein trockener Tropfen von den Hängen des Anima-Sees, Weinprobe 1792, passt bestens zu einem Teller Pasta oder Fisch. Exzellente Wahl, wenn Ihr mich fragt!
In dem Moment, da sich der Staat von seinen kulturellen Fesseln löst – der Kirche, zivilen Institutionen, Sitten und Bräuchen – wendet sich nicht nur der Bauer gegen den Adligen, sondern auch der Arme gegen den Reichen; aus Gleichheit vor dem Recht pervertiert die Vorstellung sozialer Gleichheit. Zuletzt wendete sich gar der Idiot gegen das Genie, weil dieser das Verbrechen begangen hat, anders zu sein als er selbst. - Vittorio Barzoni

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Umberto del Leocorno
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Umberto del Leocorno »

Die Geschäfte Ser Gioia, die Geschäfte. - Die Geschäfte, ein freundlicher Hinweis auf eine gute Taverne eines jungen Burschen in Uniform und alte Erinnerungen. Seht ihr, auch wenn ich schon länger nicht mehr in San Pietro war, so kenne ich die Gegend doch gut. Als mein alter Herr noch die Zügel in der Hand hielt bestand er darauf, dass ich arbeite, hier bei den Schustern, Riemern und auch bei den Gerbern. Auf das ich das Handwerk ordentlich erlerne und die Leute kennen lerne, die uns beliefern. In der Tat hat es sich gelohnt. Aber ich war schon so lange nicht mehr hier, dass mir die vielen Veränderungen erst aufgefallen sind, als ich bin als ich auf der Türschwelle stand. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis, wie man wohl sagt.
Was führt Euch hierher, kommt ihr von der Cittadella?

Ahh, der Wein... Umberto nickt Liscita freundlich zu und lässt ihn ein Glas vor sich abstellen. Er nimmt das Glas, hängt geradezu seine Nase hinein und atmet laut hörbar durch diese ein, dann schwenkt er das Glas in der Hand und wieder holt die Prozedur. Anschließend nimmt er einen winzigen Schluck und lässt ihn durch den Mund wandern und presst ihn mehrfach, ebenfalls hörbar, durchs seine Zähne Richtung Lippen und saugt ihn auf dem gleichen Weg wieder zurück. Umberto schluckt, schmatz zwei - drei Mal und fährt abschließend mit seiner Zunge über die Schneidezähne. Akzeptabel! Das ist bei Umberto durchaus als Kompliment gemeint.

Nun schaut Umberto Gioia erwartungsvoll in der Hoffnung an, dass er das Gespräch aufgreift. Manchmal hat Umberto Angst, dass er zu viel redet und für einen eitlen Selbstdarsteller gehalten wird. Dann ist da auch noch ständig diese Neugier auf alles und jeden... Seine extrovertierte Art kann sicherlich auch abschrecken, dessen ist sich Umberto durchaus bewusst, aber nun sitzt der Militärarzt nun mal hier.
Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin. - Karl Lagerfeld

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Sebastiano Gioia
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Sebastiano Gioia »

Sebastiano hört Umberto aufmerksam zu, nimmt zwischendurch einen ersten Schluck des empfohlenen Weines.
Ja, wirklich sehr lecker.

Er stellt das Glas wieder ab, lauscht den Ausführungen des Schuhmachers. Sebastiano ist deutlich jünger als Umberto und hat die alten Zeiten San Pietros nicht wirklich erlebt, doch der Ruf, insbesondere der Schemen und des Sturione waren legendär. Beinahe jedes palatinische Kind von damals kannte die Drohung "sonst holt dich der Wirt", wenn es dazu aufgefordert wurde etwas zu unterlassen. Gemeint war natürlich der Wirt des Sturione, der berüchtigten Kaschemme inmitten der Schemen, in die kein normaler Bürger jemals einen Fuß setzte. Und das aus guten Gründen. Umso interessierter hört Sebastiano zu, als Umberto andeutet tatsächlich den Sturione von früher zu kennen. Oder hatte er sich nur unglücklich ausgedrückt?
Dann aber wechselt der Mann das Thema und stellt Sebastiano eine ganz andere Frage.


Nein, nein

wiegelt er mit einem Lächeln ab

Ich bin mittlerweile im San Michele Archangelo tätig. Es bietet sich an zum Essen herüber zu kommen, hier ist es besser als in der Kantine des Krankenhauses.
Wie Ihr ganz richtig sagt, die Zeiten haben sich wohl geändert.

Sebastiano schaut den Schuhmacher wohlwollend an

Kaum vorstellbar, dass diese Gegend mal so ganz anders war.

Und Ihr kennt sie wirklich von früher?

Sebastiano kann sich kaum vorstellen, dass jemals jemand freiwillig sein Kind in die damaligen Schemen gehen lassen würde. Schon gar nicht aus den höheren Kreisen. Egal warum.
Es ist nicht direkt so, dass er dem del Leocorno nicht traut, doch reichlich merkwürdig erscheint ihm diese Geschichte schon. Doch gerade das war interessant. Es spielte überhaupt keine Rolle, ob alles stimmte, oder Umberto in seiner Darstellung überzog. Sebastianos Neugier ist geweckt.


Ich habe bisher nur die schlimmsten Geschichten gehört. Hatte Euere Vater keine Angst um Euch?
"So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen." - Sigmund Freud

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Marco Foscari
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Marco Foscari »

Liscita freut es, dass es den beiden Herren so gut gefällt, was er ihnen als Weinauswahl serviert hat, ist aber natürlich nicht verwundert. Er hatte schließlich ein erfahrenes Händchen.

Als das Gespräch zwischen den beiden Männern beginnt, zieht sich der Gastwirt zurück, geht hinter die Theke. Man hört irgendwelche Rufe in der Küche, um das Lokalkolorit zu unterstreichen, irgendwer antwortet, um welche Bestellungen es sich handelt, weiß natürlich kein Mensch. Dazwischen Kochkauderwelch, immer wieder Worte wie "pochieren", "dünsten" und "Eier, mehr Eier".

Aber hauptsache, man fühlte sich in einem zünftigen Restaurant palatinischer Prägung in den tiefsten Schemen. Ambiente war alles!
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Umberto del Leocorno
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Umberto del Leocorno »

Oh ja, es war wirklich schlimm. Einerseits – andererseits gab es auch viele glücklichen Momente.

Umberto bemüht sich milde zu lächeln. Er kann sich nicht dem Eindruck erwehren, dass Sebastiano ihm kein Wort glaubt. Daher wohl die Prüffragen. Umberto lehnt sich nach vorne und fährt weiter fort:
Seht ihr mein Vater führte ein strenges aber gerechtes Haus. Es war ihm wichtig, dass ich verstehe woher Einfluss und Wohlstand kommt. Das ich selbst in der Lage bin die Produkte, die wir verkaufen mit meinen eigenen Händen herzustellen. Er wollte, dass ich erfahre, wie harte Arbeit ist. Besonders wichtig war ihm aber, dass ich die Arbeit, die später andere für mich erledigen sollte auch entsprechend wertschätzen kann. Ich sollte stets geerdet bleiben. Es war ihm immer ein Greul zu sehen, wie andere Familien in die Dekadenz abheben und ihre Kinder verziehen. Zwar hatte ich eine behütete Kindheit, aber schon früh musste ich mitanpacken. Später habe ich hier in den Werkstätten gelernt. Kurz in der Gerbergasse, später habe ich eine Ausbildung zum Riemer und Schuster gemacht. Meinen Vater ging es dabei wohl auch um so etwas wie Authentizität und Glaubwürdigkeit. Auch wenn viele Handwerkerläden zwischenzeitlich geschlossen sind, so sitzen noch immer viele meiner Zulieferer hier in San Pietro. Ich bin kein anonymer Schnösel, sondern ich kenne die Menschen hier, ihre Wünsche und Bedürfnisse und sie akzeptieren mich und gönnen mir meinen Erfolg. Sie wissen, wenn ich gute Geschäfte mache, dann profitieren auch sie.

Aber natürlich kenne ich auch die Schattenseiten des Viertels, die bittere Armut, die Kriminalität, die gefallenen Mädchen. Öfters hat man auch versucht mich zu überfallen. Seither weiß ich, dass ich gut rennen kann – auch, wenn es nicht immer gereicht hat. Ich glaube nicht, dass mein Vater jemals ernsthaft besorgt war. Er hat wohl dieselbe harte Schule in jungen Jahren erlebt. Außerdem vertraute er den Menschen an die er mich zur Ausbildung gegeben hat. Sie wirken zwar von außen Schroff und wenig nahbar, aber es sind echte Goldstücke unter ihnen. Erst nachdem ich hier fertig gelernt hatte, hat mein Vater angefangen mich ins eigentliche Geschäft zu integrieren. Hätte ich hier hingeschmissen, so hätte er wohl versucht einen anderen Geschäftspartner als Nachfolger zu finden.

Ja, dass Viertel hat sich geändert… es ist etwas… Umberto sucht das passende Wort lichter geworden. Die schlimmsten Schuppen und Hausruinen scheinen abgerissen oder erneuert worden zu sein. Statt der dunklen Löcher in denen die Handwerker sich buckelig geschuftet haben gibt es jetzt moderne Manufakturen. Und mit den Soldaten der Cittadella gibt es auch zahlungskräftige Kunden die ihr Geld hier lassen. So wie ihr lieber hier esst als in der Krankenhauskantine.
Aber es wäre falsch zu glauben, dass die Menschen früher hier nur krank und traurig und das Viertel trist und grau gewesen sei. Es wurde trotzdem gesungen, getanzt und gelacht. Es gab einen ganz besonderen Zusammenhalt. Und manchmal hat sich sogar ein Sonnenstrahl in das Gassengewirr verirrt. Umberto lacht.

Die Zeit hier im Viertel war hart, ja. Aber auch lehrreich. Nicht nur im Hinblick auf mein handwerkliches Geschick, sondern auch auf meine Lebenserfahrung. Alles hat seine Zeit und seinen Preis. Und jetzt ist die Zeit für einen guten Wein.
Umberto erhebt sein Glas: Saluti!

Aber erzählt doch auch von Euch, was genau macht ihr im Archangelo. Ich hörte bisher nur gutes von dem Haus. Es soll sehr moderne Methoden erforschen. Nachdem er das gesagt hat lehnt sich Umberto in seinen Stuhl zurück und legt den Kopf etwas zur Seite und er blickt Sebastiano fragend an.
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Sebastiano Gioia
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Sebastiano Gioia »

Sebastiano hört dem Schuhmacher aufmerksam zu. Immer wieder nickt er bestätigend, schaut aber auch häufig erstaunt. Umberto hatte offenbar eine ganze Menge erlebt. Für einen Patrizier absolut beachtlich und in höchstem Maße ungewöhnlich.
Offenbar hatte die Gentrifizierung der Schemen schon begonnen, als Umberto ein Junge war, trotzdem war es sicherlich noch ein rauhes Pflaster gewesen.

Salute!

erwiedert er und nimmt auch einen Schluck des leckeren Weines. Als er das Gals wieder abstellt, beginnt er zu erzählen.

Wie Ihr vielleicht im Myra mitbekommen habt, war ich die letzten Monate in Florenz, ich habe mich dort weitergebildet und bin nun Arzt in der neuen Abteilung für seelisch Kranke.

Tatsächlich ist gerade unsere Abteilung äußerst modern.
erzählt Sebastiano freundlich, interesseweckend, aber sachlich und ohne Überheblichkeit

In vielen anderen Städten vegetieren die Kranken immer noch an Ketten in ihren Zellen. Wir sind von diesen Methoden abgerückt, bringen sie so gut es geht in einer normalen Atmosphäre unter. Das ist förderlich für ihren Zustand. Aber auch aussichtslosen Fällen ermöglicht es ein lebenswertes Leben. Es bietet uns auch mehr Möglichkeiten, mit den Patienten in Kontakt zu kommen und ihre Krankheiten zu erforschen. Auch wenn viele immer noch andere Ansichten haben: Eine Krankheit des Geistes, ist eine Krankheit wie jede andere auch. Jeder kann erkranken und es kann Heilung geben.

Sebastiano schaut Umberto freundlich an. Er ist aber auch skeptisch, was der Patrizio als nächstes sagen, was er von seinen Ausführungen denken würde. Viele standen diesem Krankheitsbild immer noch ablehnend und mit Misstrauen gegenüber. Weite Teile der Bevölkerung hatten den Eindruck, von "soetwas" nicht betroffen sein zu können, das galt insbesondere für die höheren Schichten. Doch Umberto hatte womöglich schon viel gesehen und auch seine liberalen Einstellungen ließen Sebastiano neugierig auf dessen Reaktion sein.
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Marco Foscari
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Marco Foscari »

Als guter Gatswirt nähert sich Liscita so gut wie kaum hörbar, und taucht fast wie aus dem Nichts auf. Auf der rehcten Hand hält er eine große, flache Schale, mit dampfendem Inhalt. Es handelt sich um ein riesiges Antipasto, das im Grunde nur drei Leute aufessen können. Dairn liegt eine ganze Fuhre Gemüse vom Grill, in Meersalz und Öl gewälzt. Zucchini-Scheiben, Auberginenstücke, Tomatenhälften, Zwiebelkringel, Kürbisschalen und wilder Lauch wie Sellerie.

Ich habe etwas mehr gemacht.


gibt Liscita zu verstehen, dass zwar nur Umberto ein Antipasto bestellt hat, er aber natürlich an Gioia gedacht hat. Die Portionsgröße allein würde eine Person schon satt machen - aber Liscita ist nicht dafür bekannt, französische Sitten in diesem Gasthaus zu pflegen.

Mögen die Sieri vielleicht noch etwas Gewürz? Salz? Pfeffer?

fragt er freundlich nach
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Umberto del Leocorno
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Umberto del Leocorno »

Ja, verehrter Gioia, ich hörte, dass ihr erst kürzlich aus Florenz zurückgekehrt seid, aber ich muss gestehen, dass ich bisher keine Ahnung hatte, was genau Euer medizinisches Fachgebiet ist. Zugegeben ist die Medizin auch ein Gebiet, in dem ich mich nur mäßig auskenne. Gleichwohl sei es mir als Laie erlaubt Euch beizupflichten: Der Mensch kann auf unterschiedlichste Art und Weise erkranken. Das einfachste ist sicherlich das Wegsperren, doch Ignoranz löst keine Probleme. Eure Ansätze führen sicherlich zu Heilung, oder zumindest zu Besserung.
Sehr modern und innovativ – ich hätte Euch gar nicht für solch einen Revoluzzer gehalten.

Umberto lacht laut auf, da er glaubt etwas Lustiges gesagt zu haben. Tatsächlich hält er Sebastiano auf Grund seines bisherigen Auftretens und Erscheinungsbildes für eher konservativ. Aber da kann er sich ja auch irren. Vielleicht ist Sebastiano wissenschaftlich fortschrittlich, aber gesellschaftspolitisch verstockt. Wer weiß?
Umberto zuckt zusammen. Jetzt hat ihn der Wirt erschreckt. Anscheinend hat er die Eigenart sich anzuschleichen. Aber die dampfende Platte, die auf den Tisch abgestellt wird, sieht vielversprechend aus.

Jaja, Salz und Pfeffer sagt Umberto, ohne überhaupt probiert zu haben.

Wieder an Sebastiano gerichtet: Sehen sie, der dritte Sohn des Schusters Greco redete nicht. Er stand immer ganz apathisch neben seinem Vater und schaute ihm zu. Er schaute nur, tat sonst gar nichts. Er reagierte nicht darauf, ob jemand die Werkstatt betrat oder nicht. Seine Mutter musste ihn ständig daran erinnern zwischendurch wenigstens etwas zu essen. Man erachete ihn für unfähig zu irgendwas. Aber dann, eines Tages griff er zum Werkzeug – natürlich ohne ein Wort zu sagen – und begann zu arbeiten. Seine Schuhe sollen perfekt gewesen sein. Das Geschäft der Grecos erlebte einen regelrechten Aufschwung. Aber dann eines Tages, etwa eineinhalb Jahre später, fand man die Leiche des Burschen in einen der Kanäle. Manche sagten er sei umgebracht worden, entweder von einem seiner eifersüchtigen Brüder oder einem anderen Schuster. Andere sagten es hätte einen Überfall gegeben und die Angreifer hätten sich durch die verwirrte Art des Knaben provoziert gefühlt und wieder andere sagten, dass es sicherlich ein Unfall gewesen sein müsse, da man den Jungen ja niemals außerhalb der Werkstatt gesehen hatte. Alles in allem eine sehr traurige Geschichte.

Darf man fragen, welches Phänomen Euch bei Eurer Arbeit am häufigsten begegnet?
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Sebastiano Gioia
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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Sebastiano Gioia »

Oh, ich würde mich nicht als Revolutionär betrachten, Ser Leocorno

wiegelt Sebastiano ab, nachdem er noch einen Schluck Wein genommen hat.

Ich glaube vielmehr, dass die meisten Dinge reifen und sich entwickeln müssen, um besser zu werden. Ganz wie dieser Wein.

er schwenkt lächelnd das Glas im Lichte des Fensters, sodass die Rubinrote Farbe aufleuchtet.

Ich denke mit der menschlichen Seele verhält es sich ähnlich. Zu große Umbrüche verkraftet sie nicht,...

oder zumindest nur schlecht.

Sebastiano nimmt schließlich noch einen Schluck des fukelnden Getränks; seine Gedanken schweifen indes kurz ab zum Vormittag, und dahin, wie sein Vorgesetzter den Englischen Stuhl und andere Heilmethoden einsetzte. Sie alle hatten zum Ziel die Seele zu erschüttern, und Ja, wenn man etwas erschütterte, konnte es sich neu ordnen. Doch erschütterte man es zu sehr, lief man Gefahr es einfach nur zu zerbrechen. Da verhält es sich - da ist sich Sebastiano sicher - mit allem anderen nicht viel anders als mit der menschlichen Seele. Nein, ein Revolutionär ist er wirklich nicht.

Die duftende Antipastoplatte die Claudio vor den beiden auf den Tisch stellt, holt ihn wieder aus seinen Gedanken. Sie ist über und über voller köstlicher Stücke in den unterschiedlichsten Farben, die ölig glänzend vor sich hin dampfen und einen wunderbar würzig-fruchtigen geruch verbreiten. Efreut nickt er dem Wirt zu, dass er an ihn mit eingeplant hatte.


Es sieht wirklich köstlich aus. Vielen Dank!

Sebastiano lächelt amüsiert, als Umberto sofort Salz und Pfeffer verlangt. Wenn er es richtig erkennen kann, sind die groben Salzkristalle frischen Meersalzes teilweise noch im Öl auszumachen. Hoffentlich verschätzte sich Umberto mit seinen Gewürzen nicht...

Guten Appetit!

wünscht er dem Schuhmachermeister und stellt sich ein kleines Sammelsurium aus verschiedenen Gemüsen auf seinem Tellerchen zusammen. Der erste Biss in eine gegrillte Zucchini, bestätigt ihn in seiner Vermutung: bissig, würziger Zucchinigeschmack, feines Olivenöl Aroma und ein Hauch Salz. Wie immer sehr lecker. Schnell probiert Sebastiano auch noch eine Tomate, bevor er ansetzt del Leocorno zu antworten.

Nun,....

sagt er noch kauend, schluckt den letzten Bissen dann hinunter.

die Gemütskrankheiten wie Hysterie oder Melancholie sind unter den Menschen viel häufiger vertreten, als man gemeinhin annimmt. Im Kontext meiner Arbeit in der Klinik treffe ich aber natürlich nur auf die schweren Fälle. Darüber hinaus behandeln wir vor allem Irrsinnige. Die landen meist auch deutlich schneller bei uns, als erstere.

Ich versuche mich aber gerade mit dem Thema ob nun Seele oder Körper einer Erkankung zu grunde liegen mehr zu beschäftigen. Das ganze Behandlungsfeld ist jung, es liegt noch vieles im unklaren.

Sein Blick wandert zu Umberto. Der junge Arzt versucht stets nicht zu sehr zu fachsimpeln, wenn er nach etwas gefragt wird. Aber das Wissen über die Seelenheilkunde in der Bevölkerung war gering, und es war leicht jemanden thematisch zu verlieren. Sollte der Patrizio nicht alles verstanden haben, würde er gerne noch genauer erklären. Er wollte ihn aber auch nicht mit Monologenlangweilen.
"So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen." - Sigmund Freud

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Re: Die Osteria „Sturione“

Beitrag von Marco Foscari »

Liscita kommt dem Wunsch Umbertos nach und bringt scharfen, schwarzen Pfeffer herbei. Es sind schöne, grobe Körner drin, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie in ihrer Heimat schon Inder zum Heulen gebracht haben müssen. Pfeffer wie dieser brachte ein schmerzhaft lungenverengendes Gefühl hervor, wenn man sie nur mit dem Eckzahn anbiss.

Pfeffer für den Herrn, leicht scharf!

betont der Gastgeber, und hält dabei mit dem Daumen die Aufschrift zu, die verrät, dass es sich hier um die unangehmste Schärfe handelt. Aber der Gast war König, und wenn der Gast meinte, dass er mehr Pfeffer wollte, dann sollte es so sein; Liscita war für einen italienischen Wirt recht tolerant, er zog erst in den Extremfällen rote Linien, beispielsweise wenn der Kunde den wahnsinnigen Wunsch hatte Parmesankäse auf seinen Fisch zu reiben oder Südamerikanische Früchte auf eine Focaccia zu werfen.

Er reicht dem Leocorno anschließend ein Schälchen mit Meersalz, wendet sich kurz an Gioia:


Bei Euch alles in Ordnung, Ser?

Liscita nickt zufrieden, wünscht einen Guten Appetit und zieht sich zurück. Das beste Restaurantpersonal machte man daran fest, wenn man es nicht bemerkte. Offensichtlich hatte der Arzt sehr wichtige Dinge zu erzählen, die einen Gastwirt nichts angingen.
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