Die Kanäle von San Pietro

Das Viertel der Fischer und Arbeiter ist der dichtbewohnteste Stadtteil Palatinas. Mit dem handelspolitischen Niedergang der Republik hat das Militär und die Waffenmanufaktur hier deutlich an Einfluss gewonnen. Die Cittadella und das Arsenal sind militärisches Sperrgebiet.
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Die Signoria
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Die Kanäle von San Pietro

Beitrag von Die Signoria »

Die Kanäle von San Pietro

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Ellenhoch recken sich die Behausungen der Einwohner von San Pietro in die Höhe. Wie seit Jahrhunderten erscheinen sie baufällig und wagemutig konstruiert; aber auch hier macht der Fortschritt nicht Halt. Bessere, stabilere Häuser verbreiten sich. Hölzerne und brüchige Brücken sind seltener geworden. Boote fahren fast durchweg unter Steinbögen her. Auch manche Promenade wurde befestigt. Moos wächst immer noch an den Nordwänden der Häuser, gesellt sich zu Farnen und Efeu, doch die allgegenwärtigen Schätze aus der Antike sind fast spurlos verschwunden. Ragte ab und an eine Statue aus dem Wasser oder zumindest ein Kapitell, so sind die Hinterlassenschaften der Antike gänzlich aufgebraucht: verkauft an einen Nobile, verhökert an einen reisenden Händler, geschmuggelt in eine britische Kunstkollektion.

Doch das, was dem Gondoliere am ehesten auffällt, ist das Wasser. Schon immer hatten die Kanäle Schlamm geführt, sahen schmutzig aus, oder trieben Hausreste darin, Holz, manchmal Treibgut. Doch irgendetwas, das man bisher nicht kannte, macht das Wasser schmieriger als sonst. Wie ein öliger Film schwimmt es an der Oberfläche. Petroleum. Schwefelspuren. Manufakturmüll. Ein schwarzer Film bleibt an Boots- und Gondelrudern haften, Kiele durchbrechen den chemischen Sumpf, der sich in der Nähe der großen Manufakturen gebildet hat. Manch toter Fisch schwimmt dort an der Oberfläche. Und dort geschieht etwas, was ein Bewohner San Pietros einst nie zugegeben hätte, weil er seine Heimat so liebt, dass seine Sinne ihm einen Streich spielen, er nichts Negatives, nichts Hässliches erblicken oder riechen mag. Doch auch hier: die Neue Zeit bringt Änderung.

Und sieht hält eine Wahrheit parat, die manchen schaudern lässt: Das Wasser stinkt.
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés

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Don Giacomo
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Re: Die Kanäle von San Pietro

Beitrag von Don Giacomo »

Eine leere Reuse klappert im Schlammwasser gegen eine Hauswand. Vergilbte Netze liegen daneben, schwappen im Rhythmus. Irgendjemand hat sie vor langer Zeit hier vergessen; oder auch aus Wut weggeworfen, als wollte er endgültig mit dem Fischfang aufhören. Unter einem Brückenbogen zieht ein Bottich mit Manufakturgut durch den Kanal. Gefolgt von Kohlebrocken. Und einem schmierigen, fettigen Film, der bald die ganze Wasseroberfläche einnimmt. Tote Fische dümpeln dazwischen, Fliegen und anderes Geschmeiß kreist darüber. Gestank der Verwesung macht sich breit.

Giacomo schaut von der Brückenbalustrade auf das dreckige Wasser. Sieht verlassene Fischerhäuser, gekenterte Boote, die im Schlamm von San Pietro versinken. Das einzige, was in diesem Pfuhl lebt, sind grüne Algen. Sie breiten sich auf der Wasseroberfläche aus, verharken sich mit den grün gefärbten Hausfundamenten. Grüngelblicher Schaum hat sich dort gebildet, wo die Gewässer in Kanalsackgassen stehen. Der Brei wirkt so fest, dass man über ihn gehen könnte.

In der Ferne rumort die Waffenmanufaktur, steigt schwarzer Qualm in die Höhe.

Die Luft reizt seine Lunge. Giacomo kann ein Husten unterdrücken, merkt, dass er nicht mehr lange an diesem Ort bleiben kann. Mit dem Einkaufskorb unter dem Arm geht der Dominikaner mit zügigem Schritt voran, verlässt die Brücke, und geht zurück nach Santa Trinità.


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Sebastiano Gioia
Introspektivenschauer
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Re: Die Kanäle von San Pietro

Beitrag von Sebastiano Gioia »

Nachdenklich geht Sebastiano die Kanäle entlang. Er ist auf dem Weg vom Hospital zum Sturione um dort wie so häufig zu Mittag zu essen. Das Sturione war nicht weit weg, es gab gute Kost zu einem fairen Preis und im Trubel des Gasthauses hatte man als Einzelner oft seine Ruhe, um noch ein paar Gedanken nachzugehen, die einem von den letzten Dienststunden durch den Kopf gingen. Und hatte man einmal keine, konnte man nebenbei die Gäste beobachten; ansehen, wie sie sich unterhielten, gegenseitig aufschaukelten oder beruhigten, ihre Launen in ihren Gesichtern ablesen und schauen, wie sie sich dann verhielten.

Heute aber hängen eine ganze Menge Gedanken im Kopf des Militärarztes. Erst vor kurzem ist er von einer Studienreise aus Florenz zurückgekehrt und zum Assistenzarzt des Leiters der Station für seelisch Kranke am San Michele Arcangelo ernannt worden. Da der Leiter, Colonello Insiemelli, sich prompt auf einer mehrwöchigen Dienstreise befindet, ist er nun quasi Chef der Abteilung. Und das bringt einige Komplikationen mit sich.

Insiemelli führt auf der Station ein strenges Regiment. Zwar waren die Patienten im Hospital nicht mehr in Ketten gelegt wie vormals üblich, doch viele von ihnen endeten nun in ihren Betten oder an Stühle fixiert. Die Behandlungsmethoden erweckten oft den Verdacht eher körperlichen Schaden als seelisches Heil hervor zu rufen und Sebastiano betrachtete sie kritisch, insbesondere seit er in Florenz andere Ansätze gesehen hatte. Auf der anderen Seite erschien einiges alternativlos. Was sollte man mit einem Patienten, der Anstalten machte sich die eigene Zunge heraus zu reißen sonst tun, als ihn mechanisch daran zu hindern? Was konnte noch zu einem Mann durchdringen, der nicht mehr ansprechbar aber vollkommen wach erschien, als ein starker physischer Reiz? Doch es gab auch andere Fälle... Fälle zum Beispiel von Männern, die Wahnvorstellungen plagten, die gefoltert waren von unsäglichen Ängsten und die nicht selten auf die brutaleren Ansätze der Behandlung mit noch mehr Panik reagierten.

Sebastiano zweifelte, dass ihnen unter diesen Umständen geholfen werden konnte. War gegen eine Erkrankung der Seele nicht eine Behandlung eben jener notwendig? Und drang man wirklich mit physischen Mitteln zur Seele des Menschen vor? Sebastiano zweifelte.

Dennoch musste er hier und jetzt Entscheidungen treffen. Entscheidungen, welcher Patient wie lange fixiert wurde, oder eben auf dem englischen Schwungapparat rotiert. Das Wohl von Menschen hing davon ab, wie er sich entschied. Und nicht selten konnte er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, die von Insiemelli angeordneten Behandlungsmethoden unter seinen eigenen Augen durchführen zu lassen.
Doch Sebastiano zweifelt.


Eine Hand in der Hosentasche, die andere in die Knopfleiste gesteckt, spaziert er weiter zum Sturione.

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"So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen." - Sigmund Freud

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Luca
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Re: Die Kanäle von San Pietro

Beitrag von Luca »

Mit geballten Fäusten stapft Luca über den schmalen Steig, der sich entlang eines kleinen Seitenkanals erstreckt. Er war nach dem Verlassen der Kapelle einfach irgendwo abgebogen, hatte nichtmals mehr zurück geschaut, als er Don Giacomo hatte stehen lassen.

Noch immer schwelt in ihm eine unbestimmbare Mischung aus Trauer, Verzweiflung und Wut. Wut über Don Giacomo, Wut, dass dieser ihn in diesen Gottesdienst mitgenommen hatte, Wut, über dessen Fröhlichkeit, aber auch Wut auf "dessen" Gott, der ihm - das wird ihm langsam wirklich bewusst - diesen Freund genommen hatte. Praktisch den letzten, der ihm noch verblieben war, den letzten, der nun nie mehr wieder kommen würde.

Eigentlich hatte Luca heute zu tun, tatsächlich wollte er doch Dom aufsuchen um sich aus seiner misslichen Lage zu bringen, doch das erscheint ihm gerade überhaupt nicht relevant. Es ist ihm geradezu egal. Sollte der nach fisch stinkende Typ doch zurück kommen. Wenigstens wäre dann etwas los. - Und er würde diesmal schneller sein. Würde ihm einfach auch seine eitrige Nase brechen. Ganz sicher...

Luca tritt frustriert ein Stück verottendes Holz, das als Überbleibsel womöglich einer zebrochenen Kiste irgendwann mal auf dem Gehweg liegen geblieben war. Es zerbirst ein viele fasrige Teile, ohne irgendeinen Widerstand zu leisten. Ein kleines Stück schleudert zur Seite und landet im Kanal. Am liebsten wäre Luca ihm hinterher gesprungen. Doch was dann?

Dem ersten Schock in der Kapelle weicht langsam eine große Leere.

Die wirklich aufregenden Zeiten hatte er immer zusammen mit Davide gehabt.

Ja, zusammen mit Matteo von einem wütenden Don Giacomo aus St. Maria Magdalena geworfen zu werden, war in gewisser Weise auch aufregend, aber eher auf eine negative Art und Weise. Das gleiche galt für übelriechende Geldeintreiber, die einem die Nase brachen.

Mit Davide aber als Kind vor einem fetten, Beil schwingenden Fischhändler wegzulaufen, dem man eine geräucherte Forelle von der Auslage gezogen hatte, DAS war eine andere Art von aufregend. Sie war spannend, belebend, aber hatte keine negativen Konsequenzen, ganz im Gegenteil zu Ärger mit Don Giacomo.

Oder das eine Mal als Davide sich in den frühen Morgenstunden aus einer Gasse heraus hatte übergeben müssen. Ausgerechnet vor und auf die Stiefel eines Militärs. Der Mann schien zwar nicht weniger betrunken zu sein, als die beiden Jugendlichen zusammen, jedoch wesentlich besser gekleidet - gewesen. Als sich bald abzeichnete, dass Davides eilig hervorgestammelten Entschuldigungen nichts brachten, hatten sie das Heil in der Flucht gesucht. Im Verlauf hatte der Mann sogar plötzlich mit seiner Pistole auf die beiden Jungs gefeuert. Daneben. Doch Luca kann sich nicht erinnern, in seinem Leben jemals wieder so schnell gelaufen zu sein. Die Angst war riesig gewesen, doch so war es auch die Freude, als man dem erzürnten Verfolger entkommen war. Im gleichen Maße nach Luft schnappend wie lachend, hatten er und Davide sich in den Armen gelegen und laut jolend vermutlich halb San Pietro geweckt.
Me ne frego!

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Luca
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Re: Die Kanäle von San Pietro

Beitrag von Luca »

Luca war abermals abgebogen und erreicht nun eine kleine Brücke, die sich über den Kanal spannt. Sie überwindet keine große Distanz, denn der Kanal ist schmal, dennoch hebt sie sich steil bis fast in den zweiten Stock in die Höhe um Gondeln oder kleinere Boote mit Fracht passieren lassen zu können.

Behände springt Luca auf ihr gemauertes Geländer, und wandelt zielsicher ungeachtet der Höhe bis zu ihrem Scheitelpunkt. Von hier aus kann man weit den Kanal entlang blicken, der sich schwarz unter ihm erstreckt. Nur hier und da funkelt noch ein wenig Restlicht auf der Wasseroberfläche, vereinzelt spiegeln sich kerzenerleuchtete Fenster. Um diese Uhrzeit sind keine Botte mehr unterwegs, auch die meisten Menschen sind zu Hause, oder bewegen sich auf einer der Hauptstraßen. Es ist still. Nur das leichte schwappen der vom Fluss hereingetragenen Wellen bricht sich an den steinernen Kanalwänden. Luca starrt einen Moment ins dunkel, setzt sich dann auf die schmale Mauer, die Füße über dem Wasser baumelnd.

Was man bei der Zeit mit Davide immer ausklammern musste, waren die Morgende danach. Luca kann nichtmals zählen wie oft er sich und den Freund in irgendeinem verlassenen Winkel der Gassen Santa Trinitàs schlafend wiedergefunden hatte und mit Kopfschmerzen und Unwohlsein aufgewacht war. Ganz zu schweigen von den endlos langen Tagen, an denen es schon wieder hell wurde und man zwar verkatert und erschöpft, aber nicht im Stande zu schlafen nichts mit sich anzufangen wusste. Meistens war an solchen Tagen vorabends Zucker mit im Spiel gewesen, den Davide spätestens seit er voll bei der Sodoma eingestiegen war immer wieder in kleineren Mengen auftreiben konnte. Manchmal war man aber auch einfach nur zu lange auf den Beinen gewesen, und hatte den richtigen zeitpunkt zum Schlafen verpasst.

Genau einer dieser Morgende schien seit dem Verlassen der Kapelle angebrochen zu sein. An dieser "Morgendämmerung" allerdings versinkt San Pietro gerade um Dunklen, statt erleuchtet zu werden, und Luca wird das Gefühl nicht los, dass dieser "Tag" niemals wieder aufhören würde.
Me ne frego!

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