Das Opernhaus „Ermelino“

Das schmucke Kanalviertel beherbergt den selbstbewussten Mittelstand der Stadt, in dem aufklärerische und jakobinische Ideen Fuß gefasst haben. Das Kaffeehaus, die Akademie und die Freimaurerloge gelten als intellektueller Treffpunkt und politischer Unruheherd.
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Enrico Albizzi
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Enrico Albizzi »

Enrico schaut bemüht nicht allzu stirnrunzelnd zu erscheinen zu dem Adeligen herüber, als dieser über die Lasten der Nobilität philosophiert. Irgendwie hat er auch diesmal das Gefühl, dessen Worte nicht ganz ernst nehmen zu können, doch Adrianos Gesicht das nur ab und an im schwachen Schein der Glut seiner Zigarre auftaucht zeigt keine Regung irgendeiner deutlichen Emotion.

Enrico nippt an seinem Champagner, und verschluckt sich beinahe daran, als Adriano über die Früchte sinniert. Sollte das etwa eine Anspielung sein? Auf ihn? Generell auf die "niederen" Stände, die etwa die Getriebenheit eines letztlich doch untätigen Nobile nicht nachvollziehen könnten?
Er unterdrückt ein Aufwallen von Ärger, von dem Kerl in seiner himmelblauen Seide würde er sich nicht provozieren lassen. Vielleicht hatte er es auch gar nicht so gemeint.


Danke.

Sagt Enrico ähnlich zögerlich wie beim Annehmen der Zigarre. Hatte er gerade noch etwas zur "Last des Adels" entgegnen wollen, so ist ihm nun doch wieder ein wenig der Wind aus den Segeln genommen. Vermutlich ist es ohnehin besser sich zurückzuhalten.

Wie ich mitbekommen habe ist euer Bruder auch wieder aus England zurück. Äußerst erfolgreich, offensichtlich... An Langeweile wird er wohl nicht leiden müssen.
versucht er das Gespräch in diesen seichteren Gewässern zu halten.

Battista Braccioleone konnte ähnlich unnahbar sein wie sein kleiner Bruder. Scheint in der Familie zu liegen... Oder soltle er besser sagen in den FamiliEN? Enrico hatte ihn in den letzten Wochen ein paar mal im Dienst erlebt und kann nicht behaupten ihn sonderlich zu mögen. Er erscheint Enrico nicht ganz so abgehoben wie der jüngere Bruder, doch dafür umso entschlossener was seine Vorstellung von Ordnung anging. Gewisser Weise ist er froh, ihn nicht als direkten Vorgesetzten zu haben, andererseits gefällt es ihm, wie vielen anderen auch, nicht, welche Sonderrolle die neuen "Carabinieri" innerhalb der Armee einnehmen und weit über die üblichen hierarchischen Strukturen hinausgreifen. Besser er würde sich erstmal möglichst nicht mit dieser Familie anlegen, so lange er die Chance dazu hat.
Suicidal, violent, tragic state of mind; lost my halo, now I'm my own Antichrist! I'm running out of Teardrops, let it hurt 'til it stops, I can't keep my grip, I'm slip pi ng a w ay f r o m m e. Oh God! Everything is SO FUCKED! but I can't feel a thing... - BMTH: Teardrops

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Adriano Braccioleone
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Adriano Braccioleone »

Der Albizzi ist vorsichtig. Adriano schätzt das. Ein Militär sollte vorsichtig sein. Das hieß zuerst einmal, dass er Adriano nicht unterschätzen wollte. Vielleicht, weil sein Bruder Enricos Vorgesetzter war; vielleicht, weil er nicht einschätzen konnte, was Adriano wirklich von ihm wollte.
Der Braccioleone tippt Asche von seiner Zigarre, betrachtet die Uniform des Soldaten. Sein Blick bleibt für Sekunden auf dem Abzeichen.


Artillerist ist eine feine Berufung, Ser Albizzi. Ich bin ein Freund der Präzision. Sie hängt mit der Perfektion zusammen. Es mag Leute geben, die empfinden Chaos als kreativ. Ich bevorzuge Ordnung, Berechnung und Symmetrie. Eine Kanonenkugel, die ihr Ziel daumengenau zerstört, das hat etwas von zerstörerischer Ästhetik. Zerstörerische Ästhetik ist zerstörerischer Kreativität immer überlegen. Ähnlich wie die Mathematik der Schätzung überlegen ist.

Er wirft einen Seitenblick zum Opernhaus, aus dem Gesang tönt. Die schrille Stimme der Sängerin ahmt zerpringende Gläser nach, die dem Araber nachgeworfen werden.
Dann fixiert Adriano den Artilleristen.


Freiheit ist daher auch stets der Hierachie unterlegen. Das werdet Ihr als Militär ebenso sehen. Hier in San Paolo hört man das nicht gerne. Die Leute wollen etwas anderes. Ein anderes Theaterstück. Die ewige Bäckerin ... nervt.

Spätestens jetzt wird Adrianos Blick dunkler. Die Miene härter. Er macht deutlich, dass die Frage nach dem Bühnenstück keine Frage der Kunst oder der Unterhaltung ist. Sondern eine der Politik. Solange er den Cavalieri di San Leone angehörte, würde er sich persönlich dafür einsetzen, dass der Spielplan nicht geändert würde; und seine Botschaft lautete: wer Kritik daran übte, sich über den Bühnenplan beschwerte oder nur mit der Inszenierung unzufrieden war, war für ihn ein verkappter Jakobiner, der über die Infiltrierung der Kunst eine Revolution anzetteln sollte.

Dann löst sich seine Miene. Tut freundlich, beschwichtigend. Stünden sich beide näher, er würde ihm zutraulich den Arm auf die Schulter legen.


Aber ich bin sicher, Ihr liebt die Bäckerin. Über alles. Etwas anderes kann ich mir gar nicht vorstellen.

Er nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarre. Nur ein glimmender Stengel bleibt übrig. Er hört zu, als das Gespräch auf Battista hinweist.

Mein Bruder macht es sich sehr leicht. Sich mit den Engländern zu verbünden ist sicherer als das Betrügen beim Kartenspiel. Man gewinnt immer, statt Gefahr zu laufen, wegen einer gezinkten Karte in den Kopf geschossen zu werden.

Seine Tonlage gibt Enrico zu verstehen, dass er es ernst meint; doch seine erfreuten Gesichtsmuskeln deuten ihm an, dass die Worte mit Amüsement zu quittieren sind. Wie es Enrico auch auffassen mag - es ist ihm überlassen. Von der komplexen Beziehung zwischen Battista und Adriano mochte er nur wenig ahnen. Vielleicht konnte ihn der eine oder andere Fleischbrocken irritieren.

Er schnippt den Zigarrenstummel fort.


Was haltet Ihr von den Carabinieri? sagt er dann plötzlich völlig unvermutet
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Enrico Albizzi
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Enrico Albizzi »

Als Adriano ihn mustert fühlt Enrico sich zunehmend unwohl in diesem Gespräch. Er kann nicht genau sagen, ob es Adrianos spezifische Art ist, die ihn verunsichert, oder ob es das typisch überhebliche Selbstverständnis der Nobili ist, das ihn abstößt. Sein Gegenüber gibt ihm keinen wirklichen Grund sich angegriffen zu fühlen, lobt er doch ganz im Gegenteil seine Truppengattung. Aber Enrico kommt nicht umhin sich als in eine unterlegene Rolle gedrängt zu empfinden. Gut, dass der Nobile nicht wissen kann, wie mühsam sich Enrico durch's Studium geschlagen hatte. Trotz alledem, oder gerade deshalb?: Enrico spürt wie er sich durch die Worte Adrianos immer mehr unter Druck gesetzt fühlt. Dieses Gefasel von Präzision und "zerstörerischer Ästhetik"... dabei hat er offenbar überhaupt keine Ahnung von den Truppengattungen, maßt sich aber trotzdem ein Urteil an.
Es ist die gleiche Gönnerhafte Art wie bei der Zigarre.
Oh wie sehr Enrico es hasst!

Der junge Capitano nimmt schwungvoll den letzten Schluck aus seinem Champagnerglas und stellt es dann betont achtlos auf einen Mauervorsprung.
Enricos Augen verengen sich unweigerlich, als der Braccioleone auf das Theaterstück zurück kommt.
NEIN, er als Militär sieht das ÜBERHAUPT NICHT so! Und es wäre verdammt nochmal Zeit, dass noch viel mehr Leute in der Armee für diese Ansicht aufstehen, anstatt sich von den immergleichen Personen aus den immergleichen Familien herumkommandieren zu lassen, die doch am Ende alle nur ein Abklatsch voneinander sind, genau wie Adriano von seinem Bruder. NIEMALS wird er so werden wie sein Vater. - Und auch sicher nicht wie Giuseppe!

Enrico hört dem Nobili kaum noch zu, wird dann erst von dessen abschließender Frage wieder aus seinen Gedanken gerissen.

Er atmet tief ein. Es ist nicht klug jetzt unbedacht zu sprechen. Nicht über diese neue Truppe, nicht gegenüber Adriano.

Enrico stockt einen Moment. Beim besten Willen fällt ihm nichts positives ein, was er nun zu dieser Frage formulieren könnte.


Es ist ein großer Schritt...
sagt er dann etwas gezwungen, versucht anschließend einen Blick auf Adrianos Gesichtszüge zu erhaschen.

Interessante Bewaffnung in jedem Fall. fängt er sich dann wieder etwas. Aber Ihr versteht sicherlich, ich bleibe doch lieber bei einem größeren Kaliber mit mehr Durchschlagskraft, versucht er dann betont leger die Situation zu entschärfen, wenngleich es ihm nicht ganz gelingen dürfte, das angriffslustiges Funkeln in seinen Augen zu verbergen.
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Adriano Braccioleone
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Adriano Braccioleone »

Ich hatte neulich ein Gespräch mit dem Minister für Mindere Pornographie, Pantomimen und andere Zensurangelegenheiten. Es wäre untertrieben, sagte man, wir erhielten jeden Tag Beschwerden. Die Dritte Republik hat gedacht, sie könnte diese Probleme aussitzen. Besondere Situationen erfordern immer ... besondere Ausrüstung. In der Politik ist das nicht anders.

Eine Katze kreuzt die Straße in der Nacht. Adriano schenkt ihr mehr Aufmerksamkeit als Enrico. Der Albizzi tut seine Pflicht. Nicht mehr sagen, als nötig. Dass er mit Battista Gespräche geführt hatte, konnte sich der Capitano denken. Wie die ausgegangen waren, blieb seine Sache. Aber es war keine schlechte Idee, bei anderen Militärs nachzufragen. Man musste die Stimmung in der Truppe wenigstens randweise erfahren. Manchmal konnte man die Ehrlichkeit oder die Verblendung des eigenen Bruders nicht einschätzen - besonders, wenn der Bruder Battista Braccioleone hieß.

Das sind interessante Zeiten, in denen wir leben, Ser. Während wir hier reden, haben sich einundvierzigtausendfünfhundert man merkt ihm an, mit welcher Faszination die Zahl ausspricht Franzosen über die Alpen in Bewegung gesetzt. Nicht weniger.

Er schaut listig zu Enrico, den er eben vorgab gar nicht zu beachten

Einundvierzigtausendfünfhundert. Das ist mehr, als San Pietro und San Paolo zusammen an Einwohnern haben.

Die Information ist neu. Woher Adriano sie hat, lässt er nicht durchblicken. Vielleicht von Battista; vielleicht vom Dogenberater des Äußeren; vielleicht von einem piemontesischen Spion. Und Enrico dürfte jetzt merken, dass Adriano jetzt endlich, endlich - zum eigentlichen Punkt kommt, auf den er hinauswill.
Der Braccioleone hebt den Finger.


Das ist eine ganz reale Zahl. Und eine ganz reale Frage. Eine Frage, die jeder von uns beantworten muss. Obwohl nur die wenigsten wissen, dass sie sich stellt. Weil sich die Leute selbst betrügen. So selbst betrügen, wie der dekadente Kadaver, der einst die Dritte Republik war.

Er lächelt ihn interessiert an.

Was gedenkt ein einzelner Artillerist im Angesicht von einundvierzigtausendfünfhundert Mann zu tun?

Adriano verreibt Tabakreste zwischen Daumen und Zeigefinger. Er erwartet keine Antwort. Die Frage scheint rhetorisch gestellt. Und dennoch: es liegt der Ton eines Tests, eines Experiments darin, dessen Ergebnis er zu gerne wissen würde.
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Enrico Albizzi
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Enrico Albizzi »

Einundvierzgtausendfünfhundert? Als Adriano diese Zahl erwähnt, nimmt Enrico ungläubig den verbliebenen Stummel der Zigarre aus seinem Mund. Mit großen Augen schaut er den Nobile an.

EinundvierzigTAUSENDfünfhundert?

fragt er nach, als sei die Zahl noch nicht oft genug gefallen. Santa Barbara! Das war eine große Zahl. Dass die Franzosen früher oder später echte Freiheit nach Palatina bringen würden, darüber hatten schon viele spekuliert. Jetzt aber schien es plötzlich erstaunlich greifbar.

Jetzt gerade? Ist diese Information sicher?

Enrico kann sich gut vorstellen, dass Adriano über... Quellen... für solche Zahlen verfügt. Alleine schon weil es für Männer wie ihn noch von viel entscheidenderer Bedeutung war als für Enrico. Trotzdem ist er unsicher, ob er dem Nobile trauen kann. Ganz offensichtlich versucht er ihn zu einem Bekenntnis zu drängen.
Was er angesichts dieser Zahl zu tun gedenkt? Nun, sicherlich erstmal ein Fass Wein zu öffnen und mit einigen alten Kommilitonen darauf zu trinken.

Enricos Gedanken überschlagen sich. Wenn die Franzosen tatsächlich schon über die Alpen waren, dann konnte es gar nicht mehr lange dauern, bis sie sich nach Palatina vorgekämpft haben sollten. Und bekanntlich eilten ihre Ideale ihnen oft weit voraus. Womöglich würde es schon bald möglich sein offen Position zu beziehen und den Widerstand im Keim zu ersticken. In jedem Fall muss er diese Information schleunigst weiter geben. Was vor einigen Wochen noch nur eine fixe Idee war, wurde jetzt zu einer realen Chance.


Zum Glück bin ich ja nicht alleine. lächelt Enrico dann milde um die Frage zu beantworten; auch wenn er dabei an eine ganz andere Art von Unterstützung denkt, als es Braccioleone tun dürfte.

Und wie ihr schon sagtet: Besondere Zeiten, erfordern besondere Maßnahmen. Ich bin sicher Palatina wird einen Weg finden damit umzugehen. Das müssen wir! fügt er dann entschlossen hinzu.

Das Gespräch ist ihm unangenehm, und er traut Adriano nicht, genausowenig wie dessen Bruder, oder sonstjemandem aus der feinen Gesellschaft, die sich doch den ganzen Tag mit nichts anderem als ihren egozentrischen Intrigen auseinander setzt. Andererseits hatte Adriano deutlich gemacht, dass er nicht mit allem was sein Bruder tat einverstanden war. Offenbar gibt es Spannungen zwischen den beiden. Vielleicht kann er es doch schaffen, eine Beziehung zu Adriano aufzubauen um so an noch mehr solcher Informationen zu gelangen. Immerhin wähnt dieser ihn durch seine Dienststellung offenbar auf der gleichen Seite...
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Adriano Braccioleone
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Adriano Braccioleone »

Das wisst Ihr nicht von mir.

bestätigt Adriano damit, dass diese Information sehr sicher, aber noch nicht an jeden preiszugeben ist. Er bemerkt das Funkeln in Enricos Augen. Er kann nur erahnen, was er ausgelöst hat, aber dass der Albizzi wenigstens für Sekunden die Augen weitet, das Rauchen aufhört, und dann für eine beachtliche Zeit Gedanken hinter seiner Stirn zucken, ist unübersehbar. Keine Frage: den Albizzi faszinierte diese Zahl genau so wie ihn. Aber nicht aus philosophischen, nicht aus schicksalsträchtigen Gründen, nicht die Dimension, nicht die Zahl an sich; sie löste in ihm mehr aus als bei Adriano, der nur glaubte, damit eine besonders schönes Juwel in einem Kästchen voller bedeutsamer Fragen gefunden zu haben.

Entweder macht man Geschichte, oder die Geschichte macht mit einem, was sie will.

Er faltet die Hände hinter dem Rücken. Er sieht nochmals hinauf zum Himmel, überschlägt die flimmernden Sterne, wiegt sie gegen Soldaten ab.

Die Österreicher und die Sarden haben sich vorbereitet. Die Invasion war überfällig. Wien und Turin sollen sogar zusammen über 50.000 Soldaten aufbringen. Die Kaiserlichen sind besser ausgebildet, besser ausgerüstet, und haben die geschulteren Offiziere. Man will die Gelegenheit nutzen, um die Franzosen endlich aus Nizza und Savoyen zu werfen, was die Revolutionäre seit Jahren besetzen.

Er pausiert kurz, schüttelt dann leicht den Kopf.

In Norditalien treffen bald Armeen zusammen, die mehr Männer fassen, als unsere Republik männliche Einwohner hat. Greise und Jungen eingeschlossen. Masse. Alles ist heute nur noch bloße Masse.
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Enrico Albizzi
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Enrico Albizzi »

Tatsächlich sind die Zahlen die Adriano ins Gespräch bringt jede für sich bereits gigantisch. Kaum auszumalen, wie sie sich erst alle zusammen auswirken werden.

Nicht, dass es einen großen Unterschied macht. Enrico hat ohnehin in seinen wenigen Jahren beim Militär noch keine echte Schlacht gesehen und kann - und will? - sich dies so oder so nicht ausmalen. Der Weg zur palatinischen Armee ist für ihn immer auch irgendwie eine Notlösung gewesen. Eine gute Gelegenheit Geld zu verdienen, damit vom Elternhaus loszukommen und auch seine eher mäßigen Studienergebnisse nichtig zu machen. Das Bedürfnis tatsächlich gegen einen Feind zu kämpfen erscheint ihm eher gering, und in jedem Fall ist er froh, im Zweifel nicht allzu dicht am Geschehen zu sein. Zumindest so lange alles gut geht...

Aus dem Opernhaus brandet plötzlich Applaus auf, unterbrochen von Jubel und allgemeinem Tumult. Anscheinend ist das Stück zu Ende.
Immerhin. Das wäre geschafft.

Enrico zieht ein letztes mal an der Zigarre, lässt den Stummel dann zu Boden fallen und zerreibt ihn unter seiner Schuhsole. Dann schaut er wieder zu Adriano.

Tja... ich schätze mehr Soldaten sind am Ende eben einfach besser als weniger.

hebt er abschätzig eine Augenbraue.

Für uns sind sie wenigstens ein leichteres Ziel.

scherzt er dann.

Die Frage ist doch aber auch, wie viele davon am Ende womöglich noch in Palatina ankommen. Vielleicht stellt sich die Lage bis dahin ganz anders dar.
Und wo Ihr schon vom Lauf der Geschichte sprecht: Die Propagandaerfolge der Franzosen sind vielerorts beachtlich. Um ehrlich zu sein bin ich mir manchmal nicht sicher, ob es wirklich so sehr auf die Männer auf dem Felde ankommt, und nicht vielmehr auf die Bevölkerung hinter den Mauern. Können wir sicher sein, dass der Norden diesbezüglich Stand hält?

fragt er kritisch. Die Idee Adriano für ein Lagebild zu nutzen ist genial. Nicht nur aufgrund seiner Stellung, ja auch aufgrund seines Bruders kann es möglich sein, über ihn empfindliche Informationen zu erhalten, wie gefährlich es für ihn werden könnte, welche Ideen Regierung und Carabinieri - ja, ganz bewusst denkt er an diese beiden einzeln - verfolgen. Er muss es nur irgendwie geschickt genug anstellen keinen Verdacht zu erregen. Jedenfalls scheint der jüngere Braccioleone deutlich gesprächiger als der Tenente Colonello.

Und was ist mit Palatina?
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Adriano Braccioleone
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Adriano Braccioleone »

Das unterscheidet Euch vom Rest.

sagt Adriano plötzlich ganz unvermittelt im Gespräch. Seine Stiefelhacken hallen auf dem Pflasterstein wider. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Seine zugekniffenen Augen gehen zu den erleuchteten Opernfenstern.

Die Piemontesen sagen, sie gewinnen. Die Österreicher sagen, sie gewinnen. Unser Botschafter sagt, beide gewinnen. Einige ältere Veteranen, die sich mit dem Dogenberater des Äußeren getroffen haben, sagen dasselbe. Zwischen uns und der Po-Ebene liegt nicht nur Sardinien und Österreich; sondern auch Venedig, Parma, Modena, die Toskana, der Kirchenstaat. Und über See sind wir sicher, die britische Navy kontrolliert das Mittelmeer.

Sicherheit. Bräsige Sicherheit. Es gab immer noch zu viel Patina. Verkalkte Reste einer vergangenen Republik, die verwaltete, statt zu formen. Drei Generationen Missstand machte man nicht in drei Jahren wett.

Seht Ihr, ich will nicht sagen: wir sind in Gefahr. Ich will aber auch nicht sagen: wir sind in Sicherheit. Was mir in den Knochen steckt, sind die Reste dieser verschlafenen Dritten Republik, die so gedankenfaul ist, dass sie ein Szenario nicht einmal denken will. Das ist übrigens der Grund, warum es keine Patrizierdogen mehr gibt. Einige sind von der Denkfaulheit besessen, sie würden ewig herrschen, ewig leben, ewig faul bleiben können.

Palatina brauchte seine besten Männer, um den Laden am Laufen zu halten. Das Militär war nur eine Facette. Die normalen Bürger machten sich keine Vorstellungen über die desolate Finanzlage eines Systems, das im Reformstau seine Bestimmung gefunden hatte, und wo jahrelang Händler und Handwerker ihre Kompromsise im Klein-Klein gesucht hatten. Die palatinsiche Außenpolitik war nicht langfristig ausgeriechtet; die Wirtschaftsphilosophie hatte weder zum Freihandel noch zum Protektionismus ein offenes Bekenntnis abgelegt. Diese Dritte Republik: ein laues Gewürm, das man nur ausspeien konnte.

Ihr habt es geschafft, mich nicht zu langweilen. Ihr werdet daher als Belohnung die Tage ein Geschenk von mir erhalten, Ser Albizzi.

Adriano zückt seine Tacshenuhr, wirft nur einen halben Blick darauf - und steckt sie wieder weg.
Er lächelt. Das heißt: er hebt zumindest die Mundwinkel an.


Dann werden wir unser Gespräch fortführen. Buona notte.

Adriano dreht sich mit einer kurzen Handbwegung zum Abschied um. Im selben Augenblick kommen die ersten Opernbesucher aus dem Haus, strömen auf Straße und Platz. Im bunten gemisch geht der jüngere Braccioleone unter, verliert sich zwischen opulenten Röcken und reichen gewädnern. Selbst wenn Enrico es wollte, im aufbrandenden Pulk kann er ihm nicht mehr folgen; offensichtlich hatte Adriano das Ende der Visite für genau diesen Moment angeplant ...
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Enrico Albizzi
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Re: Das Opernhaus „Ermelino“

Beitrag von Enrico Albizzi »

Verdutzt schaut Enrico seinem Gesprächspartner hinterher, der kurz darauf in der Menge verschwindet.

Geschenk? Was zum... ?

Enrico hat keine Ahnung, wie er mit der Situation umgehen soll. Sollte er nun froh sein, dass Adriano ihm offenbar nicht so feindselig gesinnt ist, wie er zunächst befürchtet hatte? Andererseits: Was bitte ist das für ein merkwürdiges Verhalten? Und überhaupt! Natürlich tut er so, als ob er einfach so über ihn verfügen könnte, als ob es "natürlich" in Enricos Interesse läge den Braccioleone wieder zu treffen. Dass er ihn nicht danach gefragt, sondern es einfach in den Raum gestellt hatte, ist mal wieder typisch.

Mit ärgerlichem Gesichtsausdruck wendet sich Enrico der aus dem Opernhaus strömenden Menge zu. Unter dem bunten Volk tauchen auch immer wieder Uniformen der verschiedenen Truppengattungen auf.

Verdammt.
Dadurch, dass er das Ende der Veranstaltung verpasst hatte, hatte er nun auch nicht mitbekommen, ob irgendjemand Dienstschluss gegeben hatte.
Enrico seufzt, beobachtet dann in welche Richtung sich die uniformierten bewegen. Viele verlassen den Platz in Richtung Kupferbrücke oder Bootsanleger, also vermutlich zurück zur Zitadelle, einige bewegen sich aber auch Richtung Oceano. Man kann wohl also davon ausgehen, dass die Bildungsoffensive für beendet erklärt wurde.

Enrico rollt die Augen. Gut. So hat er immerhin Zeit noch etwas zu erledigen.
Hastigen Schrittes bewegt auch er sich Richtung Kupferbrücke.


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