Die Kirche San Paolo

Das schmucke Kanalviertel beherbergt den selbstbewussten Mittelstand der Stadt, in dem aufklärerische und jakobinische Ideen Fuß gefasst haben. Das Kaffeehaus, die Akademie und die Freimaurerloge gelten als intellektueller Treffpunkt und politischer Unruheherd.
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Die Signoria
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Die Kirche San Paolo

Beitrag von Die Signoria »

Die Kirche San Paolo

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Es gibt Bauwerke, von denen man glaubt, dass sie nie fertiggestellt werden. Die Kirche von San Paolo ist so ein Fall. Ende des 16. Jahrhunderts scheinbar - eine Figur hier, eine Putte da; es gab immer etwas zu tun - beendet, sollte sie beim Stadtbrand 1654 so schwer beschädigt werden, dass sie neuerlich ausgebessert werden musste, bevor das Luzienbeben die Bauphase erneut verlängerte. Um 1700 hatte sich der Geschmack so weit verändert, dass man große Teile komplett umbaute. Hatte sich Palatina in Renaissance und Barock vor allem an der „Schwesterrepublik“ Venedig orientiert, führte der britische Einfluss ab dem 18. Jahrhundert dazu, dass man sich an deren Architektur ein Beispiel nahm. Es sollte bis zum großen Erdbeben von 1743 dauern, bis die Kirche San Paolo endlich stand. Paradoxerweise wackelte bei dieser Katastrophe kein einziger Stein im Gemäuer, obwohl man bereits befürchtete, noch ein Jahrhundert an dieser endlosen Baustelle arbeiten zu müssen. Seit einem halben Jahrhundert steht die Kirche tadellos – und keine Katastrophe auf weiter Flur, die etwas daran ändern könnte.

Die Kirche gilt mittlerweile neben dem Dom als größtes religiöses Bauwerk der Stadt und angesichts ihrer Neuheit auch als modernstes Gotteshaus. Die Innenräume nehmen acht Kapellen ein, die um einen zentralen Rundbau angeordnet sind, jede davon mit einem Altarbild aus dem Barock oder Rokoko ausgestattet und den wichtigsten Heiligen Palatinas geweiht; dabei ist die Kapelle des Heiligen Paulus doppelt so groß wie die der anderen und geostet. Die Pfeiler schmücken Heiligenstatuen, an den Bögen hängen kostbare Stoffe hinab, während ein riesiger Leuchter aus Gold und Silber mit zwölf gewaltigen Kerzen unter der Kuppel hängt, das Neue Jerusalem symbolisiert – und mit seinen gusseisernen Häusern, Mauern und Türmen der Silhouette Palatinas nachempfunden ist. Darüber reicht der Blick bis in das freskenreiche Kuppelgewölbe, wo die himmlischen Heerscharen die Trinität umtanzen.

Aufgrund der enormen Größe des Baus wurde die Kapelle des Seligen Paulino in dieses Bauwerk integriert, die über einen Seitengang mit dem Rundbau verbunden ist.
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés

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La Femme
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Re: Die Kirche San Paolo

Beitrag von La Femme »

Es fällt das Licht durch hohe Fenster. Spielt auf Marmor und Rosengranit. Farben eines Altargemäldes in einer Seitenkapelle leuchten und flackern. Die Hände eines Gefangenen stechen in die Augen des Betrachters. Wunden und Blut haften am braunen Gewand eines Häftlings. Der Betrachter sieht nur seinen Rücken. Einzig der Heiligenschein verrät ihn.

Ihm gegenüber sitzt auf einer Bank aus vergoldetem Holz und brokatrotem Stoff ein hoher Beamter in vornehmer Toga. Sein Haar ist grau, sein Gesicht kantig. Ihn umgeben Alabasterbüsten, Vorhänge mit römischen Mustern, Fresken und Säulen; in der Ecke steht eine Schüssel mit Wasser. Ein Fenster über ihm imitiert die Fenster der Kirche und sieht täuschend echt aus, so, als handelte es sich um eine lebendige Erweiterung der Seitenkapelle.

Pilatus' skeptische Augen ruhen auf dem Gefangenen. Seine Hand hebt wie fragend an.


Was ist Wahrheit ...

Kerzenrauch flammt vor dem Gemälde. Ein Schwefelholz flirrt durch die Luft, bis sein Feuer erlischt. Verliert sich achtlos auf dem Boden. La Femme genießt den Bienenkerzenwachsduft, atmet ein - bis sich ein anderer Geruch dazwischenmischt.

In Ihrer Hand brennt Papier.

Sie betrachtet, wie das Feuer das Blatt verzehrt. Buchstaben. Zahlen. Geheimschrift. La Femme war sicher, dass bisher niemand den Code entschlüsselt hatte. Aber sicher war sicher. Sie hortete nicht. Sie archivierte nicht. Sie brauchte keine Geheimpolizei, die Beweise fand. Einige Giacobini unterschätzten diesen Staat massiv; und der Staat wiederum unterschätzte die Giacobini.

Sie würde niemanden unterschätzen. Weil sie viel zu verlieren hatte. Viel zu viel; weil sie andere in Gefahr bringen konnte, denen sie half. Ohne, dass sie es wussten.

Als die letzten Zeilen zu Asche verbrennen, wirft sie den verbliebenen Zipfel zu Boden. Ein hochhackiger Absatz rammt in den Rest der Nachricht. Auf dem Kirchenboden zertritt sie den Fetzen.

Wahrheit war das, was übrig blieb. Aber eine Wahrheit, die nichts aussagte. Natürlich gab es Wahrheit, selbst wenn man sie nicht kannte - oder erkannte. Aber das war ihre Arbeit. Die fehlenden Glieder zwischen Wahrheit und Wahrheitssuchenden auszulöschen. Wahrheit war eine gefährliche Sache - in den falschen Händen. Die Lüge war anders; sie war eine Absicht. Eine Absicht zum Falschen. La Femme schwieg. Sie ließ verschwinden. Sie mochte den Rauch.

Sie zündet eine Kerze vor dem Altarbild an, vor dem Verhör Christi durch Pontius Pilatus, macht ein Kreuzzeichen - und hinterlässt nur den Ton ihrer Schuhabsätze in der Kirche von San Paolo ...


Das Geld will gut angelegt sein
Wenn ein Mann seinem eigenen Ruin zustrebt, dann leistet ihm ein Gott Hilfe. - Aischylos

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