Die Piazza San Paolo

Das schmucke Kanalviertel beherbergt den selbstbewussten Mittelstand der Stadt, in dem aufklärerische und jakobinische Ideen Fuß gefasst haben. Das Kaffeehaus, die Akademie und die Freimaurerloge gelten als intellektueller Treffpunkt und politischer Unruheherd.
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Die Signoria
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Die Piazza San Paolo

Beitrag von Die Signoria »

Piazza San Paolo (Paulusplatz)

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Der Paulusplatz mit seinem altehrwürdigen Ölbaum in der Mitte ist seit Generationen ein beliebter Ort der Zusammenkunft. Die Handwerker machten früher hier eine Pause, um das Mittagessen zwischen den Öffnungszeiten einzunehmen. Das Ritual hat sich gehalten. Traditionsreiche Weinschenken, Restaurants und Kaffeehäuser reihen sich im Kreis aneinander. Ab dem Frühling werden Tische und Stühle rausgestellt, Sonnenschirme aufgespannt und die Kundschaft draußen bedient. Mit dem Aufstieg San Paolos veränderte sich auch der Platz. Gusseiserne Gitter rahmen jetzt den Ölbaum ein, unterbrochen von Obelisken und Statuen, Lauben und Tischchen auf den Grünflächen laden zur feinen Gesellschaft im Grünen ein. Kutschen parken unweit des Casinos, Philosophen kehren in die Salons ein oder lesen Bücher auf dem Platz. Der Duft von Kaffee und Tee dominiert – und Flugblätter tauchen immer wieder wie von Zauberhand unter Tabletts und Tassen auf, die verbotene Ideen verbreiten.
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés

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Antonio Foscari
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Stadtteil: San Paolo
Schicht: Nobiluomo
Beruf: Literat

Re: Die Piazza San Paolo

Beitrag von Antonio Foscari »

Eine heiße Tassee Kaffee dampft neben einem Buch. Eine warme Frühlingsbrise von Süden fährt durch die Äste des uralten Olivenbaums, die an den knorrigsten Stellen von Stützpfählen getragen werden.

Antonio genießt den Ausklang. Die Leute mit ihren politischen Zeitschriften, die eingebildeten Philosophen und trantütigen Möchtegern-Nobili verachtet er. Aber das Ambiente und der Kaffee waren gut. Er wahrte Abstand. Und er hatte genügend Geld, sich einen Einzeltisch in einer einzelnen Laube zu leisten, wenn er es wollte. Nicht, dass er davon häufig Gebrauch machte. Im Grunde so gut wie gar nicht. Antonio war der Sohn eines Nobilegeschlechts, und wer ihn kannte, der wusste das; Foscari war ein Name, allein des langen Schattens seines Bruders wegen.

Aber er legte Wert auf seinen Abstand. Er studierte. Er ging in Kaffeehäuser. Er besuchte Theater und Oper. Wer im Kosmos von San Paolo unterwegs war, der musste sich nicht gleich ausliefern. Er kleidete sich bürgerlich, nicht, um sich anzubiedern, sondern weil es dem Ambiente entsprach. Und weil er keine Lust auf Diskussionen hatte. Gespräche begann er seit er hier lebte so gut wie nie; er wurde angesprochen, er antwortete auf Verlangen. Antonio versuchte den unmöglichen Spagat in einem hochpolitiserten Milieu der Progressiven die feinen Seiten abzugreifen, ohne in den Dreck der Propaganda und Ideologie heruntergezogen werden. Dass man ihn oftmals nur mit "Ser Antonio" ansprach, half ihm, dass man nicht allzu viele Nachfragen stellte. An der Akademie war es Usus. Der Name Foscari war zudem so belegt, dass er seine eigene Marke kaum etablieren konnte.

Vielleicht betrog er sich ein Stück weit, was diese Anonymität anging. Vielleicht wussten weitaus mehr Leute in San Paolo wer er war, als er dachte. Vielleicht täuschte er sich über das Ausmaß jakobinischer Netzwerke. Ähnlich stand es mit der Reaktion. Marcos Spione observierten ihn. Da war er sicher. Sie achteten auf sein "Wohl". Und beschafften nebenbei Informationen über sein Umfeld, weil sie ihm folgende Schatten waren.

Doch es spielte keine Rolle. San Paolo war Theater, war Illusion, war Schaustück. Hier wusste kaum einer, wer er selbst war, weil er sich die Masken von Verständnis, von Philosophie oder Menschlichkeit aufsetzte. Jeder beanspruchte in seinem nächsten Umfeld für sich, ein Weltverbesserer zu sein. Das war der wahre Betrug. Sie begnügten sich nicht damit, im schönsten Viertel der Stadt mit den besten Cafés, den besten Bücherläden, den besten Orchestern und den besten Lehrstätten zu leben. Sie wollten ganz Palatina zu einem San Paolo machen. Es war Traum und Alptraum zugleich. Sie begnügten sich nicht mit der kleinen Welt. Das war der Anspruch der Aufklärung und des neuen Geistes der Vernunft, der sich die große Welt Untertan machte. Ein langweiliger, toter Geist, der den dampfenden Kaffee vor den Augen übersah, weil er von der Befreiung der Sklaven auf Haiti träumte.

Antonio dagegen nippt an seiner Tasse. Und schaut zu den wispernden Blättern des Minervenbaums.


Antonio setzt seinen Spaziergang fort

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