Das Teatro „Leocorno“

Das schmucke Kanalviertel beherbergt den selbstbewussten Mittelstand der Stadt, in dem aufklärerische und jakobinische Ideen Fuß gefasst haben. Das Kaffeehaus, die Akademie und die Freimaurerloge gelten als intellektueller Treffpunkt und politischer Unruheherd.
Antworten
Benutzeravatar
Die Signoria
Im Namen der Republik
Im Namen der Republik
Beiträge: 100
Stadtteil: Città Antica
Gesinnung: Reaktionär

Das Teatro „Leocorno“

Beitrag von Die Signoria »

Teatro „Leocorno“

Bild

An der Piazza dell’Arte liegt nicht fern der Akademie das Theater „Leocorno“, eines von zwei Theatern in San Paolo. Es handelt sich dabei um das größere und ältere der beiden paulinischen Theater. Nachdem das ursprüngliche Stadttheater „Ermelino“ Anfang des 18. Jahrhunderts aufgrund eines Unfalls in Brand aufging, und das neue Opernhaus Jahre der Vollendung harrte, fanden sich mündige Bürger zusammen und legten selbst das Geld für ein neues Theater zusammen – nicht zuletzt, weil man bereits damals munkelte, dass das Opernhaus keine Theateraufführungen mehr sehen sollte. Als gütiger Spender erwies sich der damals amtierende Doge Ferdinando Leocorno, der erste Doge der Dritten Republik. Über dem Eingang prangt bis heute das Wappen eines Einhorns, das auf den Namen Leocornos anspielt. Da das Opernhaus den prestigeträchtigen Namen Ermelino für sich reklamierte, ging der Name des italienischen Einhorns auf dieses Haus über.

Das Leocorno ist überregional bekannt und steht für viele Gäste auf der Grand Tour auf dem Pflichtprogramm. Das Theater steht im Ruf einer hochwertigen Aufführungspraxis, so wurden schon in manchen Shakespeare-Dramen ganze Schauspielergenerationen getötet – sehr zur Freude der Zuschauer über die Authenzität, sehr zum Schrecken für die Schauspielkollegen. Lange Zeit hatte Palatina deswegen einen überragenden Schauspielerverbrauch und galt als schnelle Karriereschmiede (die allerdings auch genauso schnell wieder vorbei war – aber was zählt das, 15 Minuten Ruhm machen unsterblich!). Die Umstände haben es mittlerweile erforderlich gemacht, bestimmte Bühnendramen zu entdramatisieren, zu zensieren oder ganz zu verbieten; das aufgeklärte Bürgertum sieht dahinter natürlich nichts anderes als ein feiges Attentat der Tyrannei gegen den Geist der Freiheit.

Das Leocorno ist berühmt für seine lapislazuliblau bemalte Decken und den Blattgoldsternen darauf. Der Theaterraum gilt daher als einer der extravagantesten ganz Italiens. „Einmal unter den Sternen des Leocorno stehen“ ist zu einem geflügelten Wort im Schauspielerjargon geworden – insbesondere, seitdem der Titus Andronicus in Palatina offiziell verboten wurde. Stattdessen ist das Theater berüchtigt als Hort von Liberalen, Aufklärern, Freimaurern und anderem revolutionären Gesocks, das seine ideologischen Botschaften und aufrührerischen Ideen in den eigenen Theaterstücken unterbringt. Besuche der Carabinieri gehören hier zum guten Ton.
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés

Benutzeravatar
Antonio Foscari
Überdramatiker
Überdramatiker
Beiträge: 12
Stadtteil: San Paolo
Schicht: Nobiluomo
Beruf: Literat

Re: Das Teatro „Leocorno“

Beitrag von Antonio Foscari »

Der Mönchsfisch.

Antonio steht auf der Bühne. Er hat die Hände auf den Rücken gefaltet. Die letzte Silbe verirrt sich noch im Theaterraum, da sieht er kurz nach links, dann nach rechts. Hinter ihm liegt Dunkelheit; vor ihm liegt Dunkelheit. Nur an dem Platz, wo er steht, leuchtet Licht. Sein Blick wandert durch die Finsternis. Sieht die Silhouetten des Pauliner Bürgertums. Volles Haus.

Antonio schließt die Augen, atmet so tief ein, dass er schnieft. Er muss das Publikum ausblenden. Er war allein. Ganz allein. Und er musste da durch. Alles nach Plan.

Wie er diese Auftritte hasste.


Der Mönchsfisch wiederholt er, jetzt präziser, deutlicher, schlägt die Augen wieder auf, sieht mit scharfem Blick ins Publikum wollte heiraten.

Hinter Antonio entzünden Theaterdiener nacheinander Kerzen. Der Vorhang lüftet sich langsam, während der jüngere Foscari spricht, ein paar Schritte zur Seite geht, aber immer noch zum Publikum gewandt.

Er zog sich sein bestes Gewand an. Putzte sich die Schuppen. Bemehlte seine Perücke. Tuch, Kragen und Manschetten manierlich nach englischer Art gelegt.

Das Bühnenbild zeigt eine Unterwasserwelt, die allerdings weniger Wert auf Realismus legt, als vielmehr nach einer Unterwasserstadt aussieht, wie man sie auch in einem Goldfischglas finden könnte. Tatsächlich tritt ein in einem Mönchsfischkostüm gekleideter Schauspieler herbei, der mit seinem Spazierstock und elegantem Gang dem Urtyp eines meerischen Patriziers nahekommt.

Er hatte sich zu diesem Anlass Schuhe aus Thunfischhäuten importieren lassen, Knöpfe aus Polypenaugen, seine Jacke zierten Algen und Meeresgetier. An seiner Seite trug er einen Degen, den er vorher mit Meeresseide polierte.

Der Mönchsfisch geht an den süditalienisch-ruinierten Unterwasserbauten vorbei. Er hält ein, als eine Melodie auf einer neapolitanischen Colascione aus einem Obergeschoss erklingt. Deutlich ist eine singende Frauenstimme zu hören:

Meinem Liebsten zeigte ich die Türen,
denn er wollte mir nichts regalieren!


Auf einem Balkon tritt eine Schauspielerin im Fischkostüm, die Colascione in der Hand, sieht nachdenklich zum Himmel. Der Mönchsfisch schaut fasziniert nach oben. Plötzlich sieht die junge Frau nach unten, die Blicke treffen sich.

Es war die schöne Sardelle, in die sich der Mönchsfisch schlagartig verliebte. Der Mönchsfisch tat, was jeder Mann in dieser Situation getan hätte.

Die beiden Fische blicken sich verträumt-romantisch an – worauf der Mönchsfisch Reißaus nimmt, auf die andere Seite zu einem kleinen Häuschen läuft, in der ein schleimiger, hässlicher Fisch wohnt.

Er suchte sofort eine Kupplerin auf, um die Sardelle weichzuklopfen. Dafür suchte er die alte, abscheuliche Pfauenschleimfischin auf. Der Mönchsfisch entlohnte sie fürstlich, worauf sie sich auf den Weg zur Sardelle machte.

Benutzeravatar
Antonio Foscari
Überdramatiker
Überdramatiker
Beiträge: 12
Stadtteil: San Paolo
Schicht: Nobiluomo
Beruf: Literat

Re: Das Teatro „Leocorno“

Beitrag von Antonio Foscari »

Man sieht deutlich, wie die fette schleimige Pfauenschleimfischin die Sardelle zur Seite nimmt, letztere zurückschreckt, als sie ihr von den Avancen des Mönchfisches erzählt. Die Sardelle möchte sich zuerst verstecken, doch der alte Schleimfisch hält sie zurück.

Weg mit der Scheu und weg mit dem Sträuben,
lass die gezierten Manieren mir bleiben!
Besser wär’s, du würdest ihm mehr von deinen Brüsten zeigen.


Antonio steht an der äußeren Bühnenseite, schaut zur Sardelle, die nun dem Mönchsfisch schöne Augen macht, faltet die Hände.

Aber selbst die rechtschaffenste Kupplerin kann ihrem ehrlichen Handwerk nicht nachgehen, wenn sich andere Waschweiber ebenso in die Angelegenheiten anderer einmischen – in diesem Fall die Gemeine Napfschnecke, die die ganze Szene beobachtet hatte, und erbost die Sache weiterpetzte.

Auftritt der Napfschnecke:

Was für eine falsche Dirne,
Unverschämte und freche Stirne!
In dummer Liebeständelei geraten
Hat sie den Kleinen Thun verraten!


Das Meeresgefrücht macht sich auf zu einem anderen Häuschen auf der Bühne, worauf Antonio wieder mehr ins Bühnenzentrum tritt.

Sie eilte zum Thoninen, dem geprellten Verlobten der Sardelle.

Gerumpel. Der nächste Fisch tritt auf, macht sich an einem Schrank zu schaffen – dem Zuschauer zeigt sich ein ganzes Waffenarsenal.

Der Thun ging nach Hause, beschwerte sich wie ein Esel mit zehn Messern, Rasier- und Speisemesser dazu, Arkebusen, rüstete sich mit Pulver und Kugeln, holte eine Spingarde, steckte vier Pistolen und drei Bajonette an seine Tasche …

Der schwer bewaffnete Theaterfisch rumpelt durchs Bühnenbild, schiebt eine Spingarde, zieht das Waffenarsenal hinter sich her.

… auf den Schultern hatte er 70 Kolubrinen gestemmt, 80 Kanonen und 90 Bombarden … um anschließend den Mönchsfisch zu jagen!

Es rollen Feldschlangen, es rumpeln die Bombarden, es rumoren Schiffskanonen, es schlagen Säbel aneinander, es blitzen Bajonette, es wummern pfundschwere Kugeln auf den Bühnenboden.

In der ersten Reihe des Publikums flüstern sich die Zuschauer zu.


Woher haben die den ganzen Kram? Sind die beim Militär eingebrochen?

Sind doch nur Attrappen.

Es sind NIE Attrappen, Gusto. Nie!


Zischen einer entzündeten Kanonenzündung unterbricht den Plausch – gefolgt von Kanonendonnern, welches das ganze Theater erschüttert.

Benutzeravatar
Antonio Foscari
Überdramatiker
Überdramatiker
Beiträge: 12
Stadtteil: San Paolo
Schicht: Nobiluomo
Beruf: Literat

Re: Das Teatro „Leocorno“

Beitrag von Antonio Foscari »

Einige Leute im Publikum rutschen bereits unruhig auf ihren Bänken umher, da böse Erinnerungen aufkommen. Doch die Mehrzahl ist gebannt, ja, beeindruckt von der Szene, hofft auf noch mehr Waffen, Gewalt und Sensationen.

Indessen kommt der Thun auf den Fischplatz, findet dort den Mönchsfisch, der mit der Sardelle anbandeln will – und packt diesen am Kragen, hält ihm die Pistole an den Hals.


Verfluchter, ich bring dich um,
dreh dir deine Flossen krumm!
Veilchen geb ich dir, tausend mal tausend,
Tritte und Schläge, deine Ohren umsausend!
Ich gebe dir Andenken für die nächsten Wochen,
breche dir Schuppen und Knochen!
Wolltest meine Sardelle umwerben –
Dafür wirst du jetzt sterben!


Eine wilde Prügelei beginnt, der Mönchsfisch verteidigt sich mit seinem Degen, der Thun schießt, fechtet, wirft Messer, sticht auf ihn ein – worauf sich beim Lärm ein Fenster nach dem nächsten in den Bühnenhäusern öffnet, die Bewohner des Unterwasserneapels auf die Piazza blicken.

Der Kampf auf dem Platz weckte Verwandte und Bekannte der beiden Parteien auf. Die einen schlugen sich auf die Seite des Mönchsfisch, die anderen auf die des Thuns.

Ein Mann im Seesternkostüm lässt seine Flinte klicken, pfeift nach Frau und Sohn.

Es kamen Väter, Mütter und Kinder.

Der Seesternfamilie stellten sich Lachsgeschwister entgegen, legten ihre Büchsen an, dazu drei junge Dorsche, die ihre Knüppel drohend in die Luft hoben.

Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten.

Ein tattriger alter Hecht stützt sich auf seinen Stock. Hinter ihm zieht eine Gruppe aus sechs Seeteufeln ein Artilleriegeschütz auf den Platz.

Großeltern und Cousins, Onkel und Tanten, Schwager und Schwiegereltern.

Eine Gruppe aus Dorschen hält Spieße in die Luft, es kommen Tintenfische, die in jeder Hand ein Fleischermesser tragen, Quallen mit Hämmern und Zangen, eine Seekuh mit einem Nudelholz, sowie fünf Heringe mit Hacken, Keulen und Bretter mit Nägeln dran.

Millionen Fische kamen herbei: Sardinen und Sardellen, Lachse und Patellen, Atlantische Störe und Rote Dorsche, Forellen und Zackenbarsche …

Die Zackenbarsche füllen Pulverrohre, die Störe stopfen die Kanonen, Forellen fechten mit Patellen, erstes Blut gießt, von dem die Zuschauer nicht festmachen können, ob es sich um Tomatensaft handelt oder nicht – indes Antonio quer vor dem Szenario aus kämpfenden, süditalienisch gekleideten Fischen hergeht.

… Stockfisch und Zander, Maifisch und Flunder, Schleie und Rapfen, Stint und Karpfen, Neunauge und Äsche, Dornhai und Brasse, Moräne und Seezunge, Kliesche und Bitterlinge!

Es klirren die Säbel, es knallen die Pistolen, es donnern die Kanonen – das Bühnenbild ist um Schläge, um Löcher reicher, im Pulverrauch entzündet sich irgendwo Feuer. Im Kampfesgebrüll und im Nebel von Schwefel und Schwarzpulver muss Antonio lauter reden, um den sich entbrennenden Bandenkrieg zu kommentieren.

Es rissen die Schuppen, es brachen die Gräten, es zerbrachen die Häuser, es schwammen tausende tote Fischleiber auf dem Ozean! Keiner entkam dem Furor des entbrannten Fischkrieges! Jeder zahlte, jeder ging zugrunde – zuletzt auch der Mönchsfisch und seine Geliebte.

Irgendwo hört man kurz die schrille Stimme der Sardellenschauspielerin, die den Balkon heruntergestürzt wird, worauf ein Kanonengeschoss die ganze Konstruktion zerstört. Das Feuer breitet sich mittlerweile auf das gesamte Bühnenbild, den Vorhang und den Boden aus. Pistolenkugeln flirren durch die Luft, bewusstlos gehen Männer und Frauen in die Knie. Eine Bombardenkugel verirrt sich, knallt in den Kronleuchter im Zuschauerraum, der nach unten fällt, während die Zuschauer in Panik davonlaufen und Messer quer durch den Saal fliegen, in Bänke und gepolsterte Stühle jagen.
Zuletzt fällt die Kulisse um, begräbt große Teile des Fischgemetzels im Unterwasserneapel unter sich, erstickt jedoch zugleich auch das Feuer und streckt die Kanoniere nieder.

Stille. Die Zuschauer wagen es, wieder aufzusehen. Antonio steht auf einer ruinierten Tribüne. Man starrt ihn an.
Er richtet sich den Kragen.


Nach dem kleinen Vorspiel – nun die Hauptaufführung.

spricht er – und geht ab, tritt ungestört über die verkohlten Bühnenbretter und tritt nebenbei einen Funken aus, indes um ihn herum stöhnende, blutende, knochengebrochene und gemarterte Schauspieler in zerbeulten und zerrissenen Fischkostümen liegen.

Nach der Aufführung auf der Piazza

Antworten

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast