Die Kanäle von San Paolo

Das schmucke Kanalviertel beherbergt den selbstbewussten Mittelstand der Stadt, in dem aufklärerische und jakobinische Ideen Fuß gefasst haben. Das Kaffeehaus, die Akademie und die Freimaurerloge gelten als intellektueller Treffpunkt und politischer Unruheherd.
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Die Signoria
Im Namen der Republik
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Stadtteil: Città Antica
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Die Kanäle von San Paolo

Beitrag von Die Signoria »

Die Kanäle von San Paolo

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Zwischen weißverputzten Fassaden und Backsteinen fließen Rio und Mandro in kleinen Verästelungen durch dieses Viertel, strömen an Mauern und Stegen, unter Brücken und an Reusen vorbei. Wäscheleinen hängen mit bunten Kleidern über den Gewässern, Bögen spannen sich von einem Haus zum anderen, woanders erklingt ein Flügel oder eine Violine, dringt das Geschwätz aus Debattierclubs und geheimen Jakobinerverbänden, singt jemand die Marseillaise oder die Carmagnole. Was die Leute alles machen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen! Einige Kanäle sind in den Jahrhunderten der Überbauung und Versandung gewichen, haben Häusern oder Straßen Platz gemacht – doch immer wieder hört, sieht und schmeckt man in diesen geheimen Hinterhöfen von San Paolo etwas mehr als anderswo. Und angesichts des stetigen Wachstums ist die Fahrt mit dem Boot oder der Gondel zu den verschiedenen Orten innerhalb und außerhalb des Stadtteils immer noch der schnellste Weg.
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés

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Antonio Foscari
Überdramatiker
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Stadtteil: San Paolo
Schicht: Nobiluomo
Beruf: Literat

Re: Die Kanäle von San Paolo

Beitrag von Antonio Foscari »

Antonio steht auf einer backsteinroten Brücke, lehnt sich auf der Marmorplatte vor, getragen von weißen Balustraden. Tücher und auf Balkonen ausgeschlagene Teppiche prägen das Panorama. Ab und zu sticht Efeu auf den Mauern am Wasser durch, woanders ragt ein Olivenbaum über Eisengitter. Der Gesang einer schönen Frau aus dem dritten Stock eines alten paulinischen Stadthauses klingt in der Hausschlucht und über den Kanalgewässern; aus einem Fenster dringt der Geruch warmer Focaccia mit Rosmarin.

Der jüngere der Foscari-Brüder atmet durch, seine Augen blicken auf die trägen Wasser. In der Ferne zieht ein Gondelkiel eine Schneise nach sich.

Stille und Einsamkeit in einer Stadt waren etwas besonderes. Antonio kannte das Landleben. Er war in der Bassa Mandrana geboren, dort aufgewachsen; er musste nur eine halbe Meile gehen, um wenigstens etwas Distanz zu seinen Verwandten aufzubauen. Cannelloni war eine ansehnliche Ortschaft, und obwohl sie sich Stadt nennen durfte, so war sie doch keine - eher ein Provinzstädtchen von ein paar tausend Seelen. Die Ruhe, die man dort in den Seitenstraßen vorfand, war die eines Dorfes. Damit nichts Besonderes. Sondern die Regel.

Die Ruhe in der Stadt zu finden wog daher deutlich schwerer - und besonders schwer in einem so unruhigem Viertel wie diesen. Die Wasser von San Paolo wisperten in ihren müden Wellen von der Vergangenheit, von der Eintracht vergangener Jahrhunderte, von einer Zeit, da es hier idyllisch und friedlich, der Alltag der Handwerker das bestimmende Element gewesen war. In dieser Zeit, aus der die Fundamente der Brücken und Häuser stammten, in dieser vergangenen Zeit hätte sich niemand träumen lassen, dass schon hinter der nächsten Türe gegen die Republik komplottiert wurde, man den Umsturz erhoffte, die totale Umwälzung dessen, was gestern noch heilig und unantastbar war. Ein Paradoxon: wäre es in San Pietro geschehen, niemand hätte sich gewundert. Aber es musste ausgerechnet San Paolo sein, das einst für seine Verschlafenheit und seine rechtschaffenen "guten San Pauliner" berüchtigt gewesen war.

Hier atmete die Seele dieses untergegangenen Stadtteils. In Kanälen wie diesen. Oasen in der Unruhe, in der Zwietracht - in der Politik. Zwei Straßen weiter dominierte die Politik alles. Sie dominierte das Frühstück im Cafè. Sie durchdrang das Gespräch beim Friseur. Sie überstülpte die Gespräche beim Einkauf. Sie zwängte sich in die Gespräche beim Mittagessen. Sie war Thema auf der Arbeit. Sie verfolgte einen bis in den Schlaf, da man sich fragte, ob man noch morgen früh friedlich aus seinen vier Wänden schritt.

Anders als Marco hatte er keine Paranoia. Antonio konnte sich keine Paranoia leisten. Er war Künstler. Als Künstler brauchte man eine gewisse Prise Größenwahn, breite Passagen an pulsierender Exzentrik, Spuren von manischer Willens- und Schaffenskraft, sowie immer wieder zurückkehrende Melancholie. Da hatte Paranoia meistens gar keinen Platz mehr.

Aber Antonio war kein Naivling. Er interessierte sich nicht für Politik. Aber er sah, was war. Er spürte, das da was war. Und er wuste, das da was war. Wer so häufig wie er die Kaffehäuser San Paolos, seine Theater und Bildungseinrichtungen frequentierte, der musste nicht nur blind, sondern auch dumm sein, um nicht den Geschmack aufkeimender Unruhe auf seiner Zunge zu spüren. Und der Foscari machte sich nichts vor. Er konnte der größte Dramatiker Italiens werden, europaweit berühmt und geachtet.

Für den Pöbel blieb er ein Nobile. Und der Hass auf die Nobilität wurde zum Hass auf eine ganze Schicht, bar eines Hauchs von Rationalität. Es waren jene Leute, die den ganzen Tag von nichts anderem sprachen als von Freiheit, von Individualismus und Vernunft, die zuletzt jede freie Meinung, jeden Unterschied und jedes logische Argument als Herausforderrng ansahen. In den Schatten der Knaäle von San Paolo zeugte dieser Stadtteil eine Chimäre, die genau das bekämpfte, was sie vorgab zu verteidigen; eine Chimäre, die zu einem falschen Zeitpunkt für die falschen Leute am falschen ort zum Verhängnis werden würde.


Zeit, zum Leocorno zu gehen ...

Antonio erhebt sich langsam vom Brückengeländer, wirft einen letzten Blick hinauf zum Fenster, wo er bis eben den Frauengesang vernommen hatte.
Und geht in Stille.


Der Mönchsfisch

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