Der Herrenclub „Myra“

Die Insel in der Mitte Palatinas ist die Heimat des vermögenden Bürgertums und niederen Nobili. Geographisch immer noch der Kern Palatinas, hat die Neustadt ihre Bedeutung als Stadtzentrum verloren. Anders als die übrigen Viertel ist es keiner Ideologie zuzuordnen und gilt noch am ehesten als Refugium des normalen Stadtlebens.
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Die Signoria
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Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Die Signoria »

Der Herrenclub „Myra“

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An der Via San Pietro zwischen Zinnplatz und Markt liegt einer der wichtigsten Clubs der Stadt. Er entwickelte sich ursprünglich aus der alten Kaufmannsgilde „San Nicolao“. Mit dem Niedergang des Handels und dem Aussterben des Kaufmannsstandes in seiner bis dahin bekannten Form lockerte die Gilde zuerst ihre Zulassungsbeschränkungen und wurde immer mehr zu einem Interessenverband. Da die Kaufleute starken Bezug zu Großbritannien hatten und im Parlament den „Mercanti“ anhingen, wurde die Gilde immer mehr eine Gemeinschaft von Befürwortern englandfreundlicher Politik und des Freihandels. Um 1730 hatte die Gilde bereits ihren Sitz von San Pietro in die Città Antica verlegt, zehn Jahre später transformierte sie sich zu der heute bekannten Clubgesellschaft, deren Name „Myra“ bildungssprachlich an den Ursprung erinnern soll.

Im Laufe der Zeit nahm der Club jedoch ein immer konservativeres Profil an, da die liberalen Ideen, die hier gepflegt wurden, viel von den britischen Vorstellungen teilten, jedoch mit der französischen Aufklärung kaum in Berührung kamen. Die Mitglieder sind weiterhin eher am Wohlstand der Nationen interessiert als an Volkssouveränität. So ist der Club vor allem ein Zusammenschluss von Unternehmern, Handwerksmeistern, wohlhabenden Ärzten und Juristen, Kaufleuten, Bankiers und anderen Männern im Rang eines Patriziers, die am wirtschaftlichen Wiederaufstieg Palatinas interessiert sind und Geld für wohltätige Zwecke spenden. Obwohl konservativ gesinnt, sind in seltenen Fällen auch Reaktionäre und Liberale unter den Mitgliedern gelitten, so sie denn die Ideale des Clubs teilen.

Vor allem ist der Herrenclub aber ein Ort, wo die Herren der Stadt zusammenkommen, um in gediegener Atmosphäre zu rauchen, zu trinken und zu speisen (das Haus beherbergt eine exzellente Küche), sich in gepolsterte, hohe Sessel zu setzen und Zeitungen durchzublättern, sowie niveauvolle Debatten über die wirtschaftliche Zukunft des Landes zu führen. Englische Kartenspiele sind besonders in Mode, ebenso anspruchsvolle Wetten wie das Zusammenkehren von Stiftungsgeldern, Bekämpfung von Arbeitslosigkeit oder der Antritt einer Reise in 80 Tagen um die Welt. Böse Zungen behaupten hingegen, es handele sich um einen Rückzugsort viel zu begüterter Herren mit zu viel Zeit, die ihren Ehefrauen entkommen wollen …
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés

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Giuseppe Albizzi
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Giuseppe Albizzi »

Tabakrauch wabert zwischen Bratengeruch und einer Cellosuite von Bach. In dickgepolsterten Ohrensesseln nimmt ein Kaufmann einen langen Zug aus einer Pfeife, fabuliert ein Ingenieur über englische Erfindungen, diskutiert eine Gruppe über mögliche Reformen im Bankwesen, die einer größeren Schicht zugutekäme. Etwas ab von den dem Geschehen longiert eine Herrenrunde an einem runden Kartentisch und spielt eher der Wetten, denn des eigentlichen Spiels wegen. Es ist ein angenehmer Abendausklang im Herrenclub.

Einzig Giuseppe sitzt allein in einer Leseecke. Eher schützend denn interessiert hält er die Zeitung vors Gesicht, schaut ab und an den Blättern vorbei. Die Ausgabe der „La Sera“ war heute Abend frisch gedruckt worden; der Inhalt gehörte zum Standardrepertoire der heutigen Unterhaltungen. Auch in der den Vittoriani nahestehenden Presse hatte man von dem beginnenden französischen Feldzug gehört, und den Artikel aus dem „Libero“ nur etwas umformuliert und umgeschrieben. Dennoch las er sich in weiten Teilen anders, da die „Sera“ in ihrem nüchternen Stil nahezu alle Adjektive getilgt hatte. Ohne liberalen Pathos wirkt der Einmarsch Napoleons wie eine normale Meldung.

Doch der Bäckermeister kann sich nur wenig für die Politik erwärmen – insbesondere, wenn man keinen Gesprächspartner hatte, um darüber zu fachsimpeln. Er grüßte den einen oder anderen Bekannten, aber die Zahl der Leute, die sich zu ihm setzte, war überschaubar. Meistens wollten sie sowieso nur über langweilige Benefizveranstaltungen, Spendensammlungen oder sozial-karitative Ideen sprechen. Einige Patrizier waren der Ansicht, dass, kaum verdienten sie genügend Geld, sich sofort wieder in die Armut stürzen wollten. Der Gedanke daran, das sauer verdiente Geld mehrerer Generationen zu verprassen, nachdem man endlich den sozialen Aufstieg geschafft hatte, wollte Giuseppe einfach nicht in den Kopf gehen. Den Albizzi hatte niemand unter die Arme gegriffen; im Gegenteil, wenn nicht die eigene Familie einem die Federn vom Leib riss, dann rupfte einen der Staat.

Die andere Art, Freundschaften im Club zu schließen, waren Wettspiele. Eine britische Marotte, die mit dem Clubwesen einherging. Abstruse, heikle Wetten. Wetten von der Art, bei welcher der Ruin einer der beiden Parteien garantiert war, und sich der Gentleman darin zeigte, wie man mit der Niederlage – und damit dem persönlichen Ende – umging. Es war wenig verwunderlich, dass etwa 8 Prozent der Mitglieder dem Bankensektor angehörten, wo Wertpapiergeschäfte mit denselben wahnsinnigen Methoden zum guten Ton gehörten. Für den bodenständigen Albizzi ebenfalls kein einfaches Feld.

Giuseppe blättert weiter. So paradox es manchmal war: gerade der Club verlieh ihm Ruhe und Entspannung, weil niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte. Meistens jedenfalls. Die Hoffnung, vielelicht doch noch irgendwelche wichtigen Kontakte zu schließen, und zu einem angesehenen Mitglied dieser Gesellschaft zu werden, begrub er jeden Tag mehr und mehr ...
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Agostino Castelli
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Agostino Castelli »

Es war nicht so, als ob Agostino es bereute, Parlamentarier zu sein. Er hatte dafür gekämpft, war auf Stimmenfang gegangen, jegliche Kontakte ausgenutzt, die sein Vater und er sich über die Jahre aufgebaut hatten. Als Fernhandelskaufmann hatte er auch jegliche Verbindung ins Ausland nutzen können - man sagte diesem oder jenem einen Gefallen zu, ermöglichte Kontrakte nach London und Amsterdam, legte ein gutes Wort beim Hafenmeister ein, dass die Zollinspekteure bei dem oder dem anderen Schiff etwas milder inspizierten - und hatte bereits Stimmen gewonnen. Auch wenn es damals knapp geworden war mit diesem verfluchten Parfümeriebesitzer Derburn, der ihm fast seinen Sitz streitig gemacht hatte - er war gewählt worden.

An Manchen Tagen jedoch, wenn er im Myra saß, nur eine Zeitung las - und dann auf einmal belagert wurde von greisen, tattrigen Männern, die eine revolutionäre Idee zum Bankwesen hatten, die er ins Parlament bringen sollte, die jedoch bei genauerem Hinschauen hinten und vorne nicht aufging, dann musste er sich besonders anstrengen, nicht zu Gähnen, die Augen zu rollen und einfach weiter in der Zeitung zu lesen. Man sprach hier, dort, unterhielt sich mit Geschäftspartnern des Vaters, den eigenen Handelskollegen, diskutierte über Aktienpreise der Londoner Exchange und leise hörte man auch noch Nachrichten aus Frankreich, von dem General, der über die Alpen kommen sollte und solcherlei.


Ist der Sitz noch frei, Signore?

Agostino deutete auf den leeren Sessel neben Giuseppe, der angenehm ruhig und unaufmerksam war. Dem Castelli entging nicht, dass das der Albizzi war, der etwas abgeschieden, fast schon griesgrämig, hinter der Zeitung saß und sich nicht besonders breit machte, wie manch andere Herrschaften im Myra.
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Giuseppe Albizzi
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Giuseppe Albizzi »

Giuseppe tut so, als würde er erst jetzt von der Zeitung aufschauen. Dabei hatte er den Abgeordneten Castelli schon vorher kommen sehen. Vielleicht war heute ein Glückstag für den Albizzi: die anderen Plätze waren mehrheitlich besetzt, und Castelli suchte wohl die Zurückgezogenheit. So sehr er die Bürokraten verabscheute, die ihm mit Steuern, Zöllen und Auflagen die Luft zum Atmen raubten, so wenig hatte er gegen Castelli einzuwenden. Die Leute im Salon wussten, dass der bodenständige Albizzi für die Vittoriani stimmte, da sie am ehesten den Gedanken von Kontinuität und Beständigkeit vertraten. Die Liberalen waren Spinner und die Reaktionäre ein Übel, das man nur aushielt, solange man musste. Beide brachten Unruhe, und Unruhe bedeutete unbekannte Variablen in den Rechnungen eines Handwerkers wie Kaufmanns.

Zu Zeiten seines Vaters Lorenzo hatte eine solche Eintracht noch nicht bestanden, als sich Handwerker und Kaufleute im Parlament gegenüberstanden. Seit der Wende von 1792 hatten sich aber die Blätter neu gemischt. Man erkannte mittlerweile, dass der Patrizierstand einen mehr zusammenschweißte als vorher. Man gehörte einer besonderen Schicht an, die ihre wirtschaftlichen Interessen absteckte und sich insbesondere gegen die widererstarkte Nobilität durchsetzen musste. Castelli war seinem Naturell gemäß dem Albizzi nicht komplett fremd, anders als viele von den Schwätzern, die über nichts anderes sprachen, wie man Geld zu wohltätigen Zwecken oder eine bekloppte Wette aus dem Fenster werfen könnte. Er hatte bisher das eine oder andere Gespräch mit dem Parlamentarier führen dürfen, und wenn es einen kleinen Teil von Myra-Clubgängern gab, die ihn grüßten, dann gehörte der Abgeordnete der Vittoriani dazu.


Gern, Onorevole Castelli, setzt Euch doch.

Seine Miene hellt etwas auf. Er wollte einen positiven Eindruck machen. Wenn die Fama vom schlecht gelaunten Geizhals Albizzi weiter die Runde machte – wenn er diese ehrabschneidenden Verleumder erwischte! – konnte er sich bald ins Separee zurückziehen, es spielte keine Rolle. Der Kontakt zum Parlamentarier war wichtig.
Er fasst zum Zeitungsfach neben ihm, will Castelli die Lektüre anreichen.


La Sera für Euch, nehme ich an?
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Agostino Castelli
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Agostino Castelli »

Zu gütigst, Mastro Albizzi.

Bedankte sich der Castelli, setzte sich dann neben den Zunftmeister. Der Albizzi. Ein interessanter Zeitgenosse. Seine Familie war seit Jahrhunderten bekannt in der Stadt, berühmt für ihre Palio-Siege und als eine der ältesten Bäckerdynastien auch hoch angesehen. Doch erst kürzlich hatte er es ins Patriziat geschafft und der Ruf eines ehrgeizigen - mit Betonung auf geizig - Neureichen, der noch nicht so recht in die Riege der Patrizier der Stadt aufgenommen wurde, hing ihm nach. Agostino schmunzelte - es war dem Albizzi anzusehen, dass er sich bemühte und doch nicht ganz wohl fühlte, im Myra.

Grazie, ich hatte eben noch eine Ausgabe des Mercato in der Hand - viel zu viel Auflesen aber um französische Angelegenheiten, wenn Ihr mich fragt. Dabei war die Analyse der Investitionen der British East India Company in Südindien doch recht interessant, zumal das sich wohl auch auf den Teehandel auswirken wird.

Fasste er zusammen, nahm die ihm angebotene Zeitung an. Er blätterte etwas, verdrehte dann die Augen bei diesem oder jenem Artikel. La Sera war sachlich, informativ - aber auch in manchen belangen furchtbar naiv, wie Agostino fand. Außerdem klang der Artikel über Napoleons Zug nach Italien seltsam weltfremd, zu sachlich.

Ach, wo ich gerade bei Tee bin - auch einen für Euch, Ser Albizzi? Das Myra hat seit jüngstem wieder Tee der di Lungomonte im Angebot, ganz famose Auswahl. Oder, trinkt ihr doch eher Kaffee?

Der Castelli hatte die Frage wie eine Nebensache gestellt, warf auch nur einen kurzen Blick zum Albizzi. Doch er war gespannt auf dessen Reaktion - alles, was man in der Palatinischen Gesellschaft sagte, machte, konsumierte, handelte, hatte Auswirkungen auf den sozialen Status und den Stand. Im Myra gab es selten Liberale oder Reaktionisten - doch es gab sie. Und so ganz konnte Agostino den zurückhaltenden Bäckermeister noch nicht einschätzen, auch nach mehreren kleinen Pläuschen, die sie in der Vergangenheit bereits gehalten hatten - und davor würde er ihm auch nicht mehr Vertrauen entgegenbringen, als es die Höflichkeit gebot.
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Giuseppe Albizzi
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Giuseppe Albizzi »

Giuseppe lässt sich die Erleichterung nicht anmerken. Er konnte zwar ohne Gesellschaft gut leben, aber gegenseitiges Anschweigen empfand er als unangenehm, wenn er nicht der aktive Part war, der andere herablassend anschwieg. Sein Großvater hatte zwar auch den Ruf gehabt, härter als die härtesten und schlauer als die schlauesten gewesen zu sein, und seine Linie durchzuziehen – und es zugleich irgendwie geschafft, als Parlamentarier der Artigiani nicht den Anschluss zu verlieren. Insgeheim war ihm der alte Antonio immer ein Vorbild gewesen. Lorenzo war auf ihn nicht immer gut zu sprechen gewesen. Aber es stand außerfrage, dass die Albizzi damals auf der höchsten Stufe von Rang und Namen gestanden hatten, wenn sie vielleicht auch nicht so wohlhabend wie heute gewesen waren. Doch die Weisheit, sich zu fragen, was sein Großvater jetzt getan hätte, beherzigt Giuseppe dennoch.
Also geht er auf das kleine Geplänkel ein.


Ich finde prinzipiell, dass da, wo der Mercante auf Politik einsteigt, rasch an Boden verliert. Einige Liberale in der Wirtschaft haben recht interessante Ideen, wenn sie nur auf diesem Feld bleiben. Aber einen Schritt weiter, und man hört nur noch politische Tagträumerei. Insgeheim gibt es wohl immer noch ein paar Sympathisanten in der Redaktion, was bedauerlich ist. Es tut dem Blatt nicht gut.

Er sieht bedeutungsvoll in Agostinos Richtung. Man akzeptierte ihn vielleicht nicht im Club, weil er einen gewissen Lebensstil pflegte, aber als Zunftmeister wusste Giuseppe durchaus, wie man sich mit der guten Gesellschaft unterhielt. Dafür hatte er schon zu viele verschiedene Anlässe besucht und war eingeladen worden.

Buonaparte nennt er leicht herablassend die italienische Form des pseudo-französischen Generals ist ein Phänomen für die feine Gesellschaft. Manche mögen es sehr, ab und wann die Zeitung aufzuschlagen und davon zu lesen, wie sich Leute am anderen Ende der Welt die Köpfe einzuschlagen. Man kann sich so schön gruseln, ohne selbst unter die Räder zu kommen.

Er schlägt die Sera wieder auf. Der Albizzi mochte diese Zeitung, eben weil sie so unaufgeregt war. Es gab genügend andere Zeitungen zum Aufregen. Die Sera konnte man lesen und dabei von den blutigsten Schlachten, von Pest und Typhus, von Morden und den Untergängen von ganzen Staaten lesen, und war nach der Lektüre desselben Gemütes wie davor. An sein Lieblingsblatt ließ er keine Zweifel kommen; in einer chaotischen Welt sehnte er sich nach Ordnung und Langeweile. In der Langeweile konnte man ruhig seine Brötchen backen.
Beim Angebot mit dem Tee schaut er wieder auf.


Oh, ja, danke. Ich probiere gerne. Vielleicht mit etwas Honig?

Giuseppe war eigentlich kein Tee-Freund. Er bevorzugte Grappa. So, wie ihn die Albizzi-Männer seit Jahrhunderten tranken. Aber Tee drängte sich nicht auf. Das war ein Vorteil.
Ein anderer Vorteil war, dass jedwede Kost in diesem Club inklusive war, und der Tee damit: umsonst.


Verzeiht, dass ich eben so abgelenkt war entschuldigt er seinen faux-pas, eben einfach weitergelesen zu haben aber ich bin interessiert. Viele meiner Kollegen in der Zunft fragen sich, wie der Staat, der unter den letzten Dogen so missgewirtschaftet hat, wieder saniert werden soll. Es gehen Gerüchte um, es stünden drastische Steuererhöhungen ins Haus. Andere vermuten höhere Einfuhrzölle auf ausländische Waren. Gibt es dazu eine Debatte im Parlament?

Er tippt auf eine Kommentarkolumne der Zeitung.

Der Onorevole Saragossa VIII. rät bereits zur Erhöhung der Weinsteuer um 2 Prozent.
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Agostino Castelli
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Agostino Castelli »

Agostinos Miene hellte kurz auf. Der Albizzi biss an, öffnete sich. Im Herrenclub konnte man ohne Probleme Gespräche über Politik anfangen - doch zu oft verlor man sich entweder in sinnlosem Gefasel, wenn man den Gedanken älterer Herren zuhörte und sie einem deren Träume ausbreiteten, die etwa so viel Substanz und politischen Weitblick wie eine kurzsichtige portovecchainische Küstenqualle hatten, oder man erstarrte hinter zwei unsichtbaren Fronten. Der politische Ton in Palatina war seit Jahren zuhends rauer geworden. Und es war eine andere Art von Konflikt, hier ging es nicht mehr nur um die Geplänkel der Republik, nicht mehr bloß Nobili gegen Patrizi - es schwelte nunmehr auch der Ruf nach Revolution, das unzufriedene Grummeln der Konservativen und Reaktionisten und auch als schriller Warnton das Pfeifen von Militär und Wissenschaft in der Luft. Konflikte, die größer waren als nur die Republik allein.

Und beim Albizzi? Da wartete Agostino noch mit seinem Urteil. Vielleicht hatte er auch Glück, und statt eines verträumten Alten oder eines ungeahnten Kontrahenten saß ihm ein angenehmer Gesprächspartner, vielleicht sogar ein Kooperationspartner gegenüber.


Der Mercante spiegelt damit leider aber auch einen nicht kleinen Teil unserer Gesellschaft wieder - versiert auf ihrem Feld, politisch aber unerfahren und von verkehrten Idealen geleitet. Wie ihr wisst, stehe ich für Kontinuität. Weswegen ich ebenso die Sera bevorzuge. Sagte er, deutete auf das Blatt in Giuseppes Hand. Wenngleich ich die Meinung der Sera teile - die Geschehnisse am anderen Ende des Kontinents sind auch für unsere kleine Republik von Bedeutung. Doch ich erspare Euch eine große Sermon, die Diskussionen im Parlament zu jeglichen außenpolitischen Themen sind ermüdend genug.

Agostino hatte sich nicht auf die Außenpolitik spezialisiert, war jedoch trotzdem besser informiert als die meisten seiner Mitparlamentarier. Zumal die Vittoriano in der Regierung derzeit zwar Koalitionspartner der Leonisti waren, die Außenpolitik jedoch traditionell das Feld der Nobili gewesen war und auch der Foscari und der Doge sich eisern weigerten, die außenpolitischen Belange an andere Kabinettsmitglieder abzugeben. Selbst da Ponte, der Dogenberater und Vorsteher der Città Nuova, konnte wenig ausrichten im Consiglio, wenn der Doge und der Foscari sich querstellten. Früher oder später würde das zu Querelen führen.

Honig, natürlich. Agostino schmunzelte. Der Bäckermeister hatte also einen süßen Geschmack.

Nun, Mastro Albizzi, Steuererhöhungen würden vor allem die Nobili treffen, die derzeit immer noch einen nicht unbeachtlichen Teil ihres Vermögens unversteuert lassen können - und ratet, wer sich im Parlament dagegen stellt. Gleichzeitig würden Importzölle an die Palatinischen Käufer direkt weitergegeben werden, womit wir auch dem heimischen Markt schaden würden und Handelsbeziehungen, auf die wir angewiesen sind, nachhaltig zerrütten. Der Doge hat bisher noch kein umfassendes Programm zum Ankurbeln der Wirtschaft vorgelegt, es wurden aber bereits von den Vittoriani einige Punkte gefordert, die, unserer Meinung nach, die Wirtschaft ankurblen können. Liberalisierung von Ordnungen und Deregulierung von unseren Märkten miteinbeschlossen. Die Fronten im Parlament sind jedoch auch nicht ganz klar, einige Verrückte spielen auf Vergemeinschaftung der Manufaktur und aller Großbetriebe ab, während wieder andere dafür sind, einfach Geld an alle zu verteilen. Wie Ihr seht - es gibt eine Menge ... diffuser Meinungen zu dem Thema.

Agostino schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck von dem Tee, der eben gebracht wurde.
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Giuseppe Albizzi
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Giuseppe Albizzi »

Giuseppes Ton wird einen Moment salopp, als man auf den „Mercante“ zu sprechen kommt.

Manche Kaufleute haben eben vergessen, dass sie für die Wirtschaft und nicht für den Staat gemacht sind.

Der Bäckermeister spricht auf mehreren Ebenen, die Agostino verstehen dürfte. Giuseppe hatte keine politischen Ambitionen. Er musste einen Betrieb regeln. Sein Großvater hatte noch beides tun können, aber sein Großvater war ein anderer Menschenschlag gewesen, und vor allem hatte sich dessen Familie eher als Stütze, denn als Hindernis bei der Verwirklichung seiner Pläne gezeigt. Giuseppe hatte Berechnungen angestellt: Berechnungen, demnach allein die Ausgaben für Salomès Garderobe in den letzten zehn Jahren die Finanzierung von Fuhrwerken, Lastkähnen, Mehllieferungen und Reparaturen getragen hätte. Geld, das fehlte. Investitionen, die fehlten.

Das bedeutete: andere Leute des Patrizierstandes mussten ihre wirtschaftliche Existenz an den Nagel hängen, wollten sie wirklich Politik machten. Es gab nur wenige, die beides austarieren konnten, und die standen mit beiden Beinen in der Politik, weil andere den Familienmitglieder den Laden am Laufen hielten.


Vergemeinschaftung der Manufaktur! Diese Wahnsinnigen!weckt der Satz den Albizzi aus den eigenen Gedanken.

Die Wirtschaft Palatinas ist ein zartes Pflänzchen, das gegossen werden will, und diese Leute sprechen davon, am besten die Pflanze auszurupfen und die Blätter unter allen aufzuteilen. Als ob von denen jemals wer richtig im Leben gearbeitet hätte. Die Hände ganz weich, Hände, die nie etwas in die Hand genommen haben, das schwerer war als eine Schreibfeder oder ein Buch von irgendeinem verrückten französischen Philosophen.

Es gab Gerüchte, dass es unter den Jakobinern noch radikalere Kräfte mit noch extremeren Ansichten gab. Leute, die überdies von Geschlechtergleichheit sprachen, für die jeder Unterschied eine Hürde der Kultur war, die aufgehoben werden musste. Giuseppe hatte von solchen Leuten über Meldungen und Gespräche erfahren, hielt sie aber bis dato für Leute, die man auch in das neue Militärspital zur Untersuchung einpferchen konnte. Unglaublich, dass irgendwer für diese faulen Spinner, die nur fordern, aber nie was leisten wollten, seine Stimme abgab.

Gut dass sein Bruder Enrico von dieser Fraktion nichts wusste, er wäre ihr wichtigster Unterstützer gewesen.


Wie ist die Stimmung im Parlament? Man hatte anfangs Vorurteile gegen eine Zusammenarbeit mit den reaktionären Serenissimi … hat San Trovaso in seinen ersten Regierungsmonaten einen guten Eindruck gemacht? Oder eher eine Enttäuschung? Ich bin interessiert, weil ich auf die Stabilität der Republik vertrauen muss, aber immer noch nicht einschätzen kann, ob die Leonisten lieber vergangenen Zeiten nachjagen …

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Agostino Castelli
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Agostino Castelli »

"Ihr sagt es, Mastro Albizzi - wir leben in bewegten Zeiten, wo es viele nach oben drängt. Menschen, mit Visionen, wie der Staat sein sollte. Doch ich halte Visionen für Angelegenheiten des Spitals oder der Ordensbrüder und Schwestern. In der Politik sollten Ergebnisse zählen, und auf diese bauen wir im Parlament."

Fasst Agostina knapp zusammen. Viele Patrizier, auch in seiner Fraktion, waren Schwachköpfe, die erst durch die Herabsetzung der Vermögensgrenzen eine Hoffnung auf Einfluss und Macht bekommen hatten. Die Castelli waren seit Jahren im Parlament, eine alte Händler- und Politikersippe. Der Vater noch vom alten Schlag, in der Zeit der Patrizierdogen hatte ihre Familie durchaus Karriere gemacht. Deshalb war die Entwicklung mit den Rittern von San Leone umso heikler - die kritischen Stimmen bei den Vittoriani waren auch nicht selten. Doch zum Glück konnten Agostino und einige seiner einflussreicheren Kollegen die Fraktion zusammenhalten. Denn darum ging es - diese zerbrechliche Allianz zumindest so lange zu bewahren, wie nötig, um ihre Geschäfte und Anliegen durchzubringen.

"Der Doge? Ein junger Nobile, wenn ihr mich fragt. Nicht unfähig und verblendet, wie ihm vielleicht manche Illuminati ihm unterstellen würden. Bisher sehr kooperativ, da er um die doch fragile Koalition mit den Vittoriani weiß und er Kompromisse suchen muss, um seine Ideen durchzusetzen. Wenn ihr aber mich fragt ... mich beschleicht das Gefühl, dass die wahre Macht hinter der Exekutive wo anders liegt. Unser Consigliere da Ponte hat in einer Fraktionssitzung der Vittoriano durchaus gewisse Skrupel geäußert, aber bisher konnten wir noch genug unserer Anliegen durchsetzen. Beispielsweise wurde die Erhöhung der Weinsteuer um 2% abgeschlagen, auch weitere Zollerhöhungen. Die fehlende Summe im Budget ... nunja, sehr schade, dass darunter einige Projekte der Serenissimi dran glauben mussten, nicht wahr?"

Zwinkert er, verkauft umso mehr die Verhandlungen als vollen Erfolg für die Vittoriani. Er lehnt sich zurück, wirft nochmal einen Blick in seine Zeitung - der politische Kaffeeklatsch unter den beiden Herren scheint sich dem Ende zuzuneigen.
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Giuseppe Albizzi
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Re: Der Herrenclub „Myra“

Beitrag von Giuseppe Albizzi »

Giuseppe nickt eifrig. Er ist einerseits erfreut darüber, dass beide dieselbe Auffassung teilen - andererseits, weil Agostino ganz offensichtlich ihn nicht für einen Tölpel hält, der nur vorgefertigte Meinungen von sich gibt, sondern definitiv Interesse an den politischen Zuständen hat. Heute fühlt sich der Albizzi als gleichwertiges Mitglied dieses Clubs. Das ist nicht immer der Fall.

Die Serinissimi wissen wie viele andere eben auch nur, wie man am besten das Geld anderer Leute ausgibt. Sie leben - wie Nobili eben häufig sind - von Geld, das sie andere erwirtschaften lassen.

fügt der Albizzi im wissenden Ton fort, wie ihn Kaufleute und Unternehmer pflegten, die zwar selbst dutzende Angestellte die Drecksarbeit machen ließen, aber sich einbildeten, tagein, tagaus selbst die Kohleschaufel zu heben, um damit die Schmelzen anzufeuern.

Ich will Euch nicht zu lange behelligen, Onorevole Castelli. Ihr habt sicherlich Verpflichtungen.

Verpflichtungen in einem Herrenclub, wo sich die Männer meistens die Zeit vertrieben, indem sie speisten, lasen, debattierten - doer einfach ihren Frauen aus dem Weg gingen. Giuseppe möchte einfach höflich klingen, und es gelingt ihm, im Gegensatz zum oft grantigen Verhalten gegenüber anderen Mitmenschen.

Aber Ihr wisst vielleicht, dass mein Großvater noch im Parlamento saß. Es ist gut zu wissen, dass es fähige Leute gibt, die seine Linie fortsetzten. Er hat immer gesagt: schlauer sein als die schlauesten, härter sein als die härtesten.

Er nippt nur kurz an seinem Getränk, sagt dann:

Vielleicht sollten die Schlauesten und die Härtesten auch heute ... zusammenarbeiten. Ihr versteht.

Zwar nennt er keine Namen, lässt aber der Höflichkeit halber Castelli annehmen, dass er sich selbst nur zur zweiten Gruppe zählt.
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