Ahh, der Quak de Figaro!
Der alte Albizzi reibt sich die Hände. Eine glückliche Ente schaut von der ersten Seite der Zeitung, die pünktlich am Freitag erschienen ist. Die alte Grazia hat ein Exemplar auf ihrem Fass angeheftet. In der Kolumne "Federn gelassen" wird ein Parlamentarier durch den Kakao gezogen. Im wahrsten Sinne des Wortes: eine Karikatur zeigt den Abgeordneten Saragossa VIII., wie er in einer übergroßen Tasse Kakao ertrinkt und flehend darum schreit, die Kakaosteuer zu erhöhen.
Die alte Grazia schenkt Lorenzo ein gelbzahniges, breites Grinsen.
Habe Euch extra eine Ausgabe zurückgehalten, Lorenzo.
Der Albizzi will an seinen Münzbeutel greifen - und hält dann ein.
Spielen wir?
Gerne.
Die alte Grazia hatte die Aura einer Hütchenspielerin. Sie ging darauf ein, wenn Lorenzo Geld verlieren wollte. Das Spiel, das sie spielten, war ein Ratespiel. Wie jeder wusste, brachte eine Ente den "Quak" an alle Verkäufer. Daher stammte ihr unverwechselbarer Geruch.
Lorenzo wettete, dass er bestimmen konnte, welche Ente der Zeitungsverkäuferin die Ausgabe brachte - und erhielt sie umsonst, wenn er richtig lag. Sollte er die Ente nicht erraten, musste er jedoch doppelt so viel zahlen.
Grazia reicht Lorenzo die Zeitung an.
Riecht heute nach ... hmm ...
Lorenzo zieht die Zeitung unter seiner Nase lang, meint dann einigem Schnüffeln und Gurgeln in der Art eines Sommeliers:
Germanata Veneta. Kein Zweifel.
Tut mir Leid sagt die Alte Grazia Ganz gewöhnliche Stockente.
Als ob Ihr das entscheiden könntet ...
brummt Lorenzo Bin mir sicher, Ihr könntet eine Venetische Ente gar nicht von einer Stockente unterscheiden, wenn beide vor Euch stünden.
Ich interessiere mich einfach weniger für Enten als Ihr.
AHA!
ruft Lorenzo aus Auf frischer Tat ertappt! Ihr gebt es also zu.
Die Zeitungsverkäuferin verengt die Augen. Sie wird sichtlich ungeduldiger. Hinter Lorenzo stehen mittlerweile zwei Kunden.
Das macht 200 Lire, Lorenzo.
Ich kann mir ja nicht einmal sicher sein, ob Ihr richtig liegt - und nicht etwa ich die Zeitung gewonnen haben könnte. Denn eine Venetische Ente ist eine ganz andere Sache als eine Stockente, aber die beiden sehen sich sehr ähnlich. Eine Veneta kann man ganz deutlich an der schönen S-Form erkennen, die Schnabel, Hals und Brust bilden, im Gegensatz zur eher gerade verlaufenen Linie einer ganz gewöhnlichen Ente. Und während die Stockente ein echter Wasservogel ist, treibt sich die Veneta häufig an Land und sogar in Waldgebieten herum. Der Schnabel ist üblicherweise hellgelb gefärbt, im Gegensatz zum orangegelb der Stockente. Der Ruf der Stockente ähnelt einem typischen "Quak-Quak-Quak"; die Germanata Veneta dagegen ...
Grazias Finger tippeln ungeduldig auf dem Fass, während der Albizzi ihr gegenüber eine lange Rede über eine Entenrasse hält, die sie weder kennt noch kennen will. Ihr Unmut ist längst auf die Reihe übergesprungen, die sich hinter Lorenzo gebildet hat, und auf ein halbes Dutzend angewachsen ist.
... schon Pietro Bembo soll in seinem Gedicht über die saftige Germanata von Dolo geschrieben haben, dass sie dicker und fetter sei als der gewöhnliche Typus. Das behauptet zumindest der Anserologe Gerwin von Federstein in seiner Summa platyrhynchis. Es gibt sehr bedeutsame Studien, die ...
Lorenzo?
Grazia?
Einigen wir uns auf 100 Lire und Ihr behelligt mich nie, NIE WIEDER mit Euren Entengeschichten, ja?
Kurze Pause. Lorenzo überschlägt. Es war ja auch nur allzu logisch. Der alte Albizzi war sich sicher, dass Grazia die Ente nicht erkannt hatte, demnach gar nicht das Spiel gewinnen konnte. Das war mindestens ein Patt.
Daher gab es für Lorenzo auch nur eine richtige Antwort.
Einigen wir uns auf 50?
Ihr seid übergeschnappt! Zahlt endlich.
Und wenn nicht - holt Ihr dann die Carabinieri?
Die flache Hand der Alten patscht auf den Fassrand. Sie schaut auf die Reihe aus acht Personen, die grummelnd hinter Lorenzo steht - und bemerkt eine Patrouille aus zwei schwarz gekleideten Soldaten der Cittadella, die um die Ecke biegen.
Die hintersten Kunden in der Reihe verschleichen sich bereits. Es folgen die in der Mitte, die sich mittlerweile umgesehen haben, stecken die Hände in die Taschen und gehen wie zufällig weiter.
Hastig verstaut Grazia die zuoberst liegenden Ausgaben der Marianne.
Aus, aus! Jetzt macht, dass Ihr endlich Land gewinnt!
Grazie, und bis zum nächsten Mal!
Fünfundsiebzig Lire fallen auf das Fass. Grazia kann nur einmal kurz aufsehen, sieht noch Lorenzos freundlichen Abschiedsgruß. Die Schlange am Zeitungsstand hat sich mittlerweile komplett verflüchtigt, die Carabinieri sind dafür bald in Greifweite. Schnell lässt die Verkäuferin das Geld verschwinden, zückt dafür einige gefälschte Lizenzen, tritt einen Stapel mit "Libero"-Ausgaben unter die Plane eines Nachbarstandes und lächelt überzeugend, als die skeptisch blickenden Soldaten vorbeiziehen.
Dann schaut sie noch einmal zur Gasse, in der Lorenzo bereits verschwunden ist. Das letzte, was sie sieht, ist das breit ausgebreitete Blatt vor seinem Kopf.
Manchmal weiß ich nicht, ob er irre geworden ist, oder nur den Irren spielt ...
Lorenzos Geheimnis