Die Oberstadt auf dem Palatina ist immer noch der Sitz der Mächtigen und bedeutenden Familien. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts stagniert der Stadtteil jedoch, teils gibt es verfallene und verlassene Contraden. Das Parlament hat seinen Sitz im einstigen Dogenpalast. Die reaktionären Nobili und ihr Anhang haben hier ihren Platz.
Noch immer lassen die breiten Alleen die Kaiserzeit des Römerreichs erahnen. Noch immer erheben sich hier die Paläste der großen Familien Palatinas aus dem Mittelalter und der Renaissance. Doch der Exodus der Oberschicht auf das Land, die Dekadenz der Kaufmannsschicht und der Zerstörungen des Erdbebens von 1743 zeigen starke Veränderungen in diesem Stadtviertel. Gärten sind zahlreicher, wo einst Häuser standen; hier und dort erstrecken sich heute Hecken, Pinienhaine oder kleine Weinberge. Baumalleen kaschieren den Verlust von Hausfassaden. Verlassene Paläste zeugen von einstigem Ruhm und Reichtum. Hin zur Uferallee mehren sich die Palazzi, die Stammsitze und prächtigen Villen; doch Richtung Palatin wird die Bebauung spärlicher. Antike Säulen und Bögen vereinen sich hier mit frühneuzeitlichen Hinterlassenschaften.
Für Touristen auf der Grand Tour Sehenswürdigkeiten; für geschäftssüchtige Palatiner ein Nebenverdienst, um diese an der Nase herumzuführen; für manchen Nostalgiker Orte, an denen sich Melancholie mit Seufzern vereint. Einzig die Hauptachse von der Messingbrücke zur Piazza della Repubblica ist durchgehend bebaut, wie eine Kulisse, die den Verlust dahinter vergessen macht.
Wissen Sie, warum die europäische Gesellschaft stirbt? Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. Sie stirbt, weil Gott sie geschaffen hatte um mit der katholischen Substanz ernährt zu werden und weil Kurpfuscher ihr die rationalistische Substanz als Nahrung verabreicht haben. Die einzelnen Menschen können sich noch retten, weil sie sich immer retten können. Aber die Gesellschaft ist verloren, nicht deshalb, weil ihre Rettung eine radikale Möglichkeit an sich darstellt, sondern weil die Gesellschaft meiner Überzeugung nach ganz offenbar nicht gerettet werden will. - Juan Donoso Cortés
Foscari und Lattepizzicato gehen über die Treppe des Stadtpalastes, bleiben auf der untersten Stufe stehen. Entrüstet sieht der Herr nach links und rechts, sucht die leeren Straßen ab, auf denen die Schatten der östlichen Fassaden liegen. Nur eine Gruppe Wasserträgerinnen, ein Kurier und ein paar Lieferboten mit Handkarren sind unterwegs. Ansonsten plätschert nur ein Brunnen im Garten gegenüber.
Foscaris Schuh tritt ungeduldig auf Marmor auf.
Um 8 Uhr und 15 Minuten beginnt die Sitzung der Signoria. Wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann Unpünktlichkeit!
Ich kann Euch beruhigen, Ser, er hat für 8 Uhr ...
Die Glocken von San Leone schlagen. Foscari zückt seine Taschenuhr, vergleicht die Uhrzeit - es ist die exakt gleiche Zeit.
Erst in diesem Moment trappeln Hufe am Ende der Straße. In gemächlichem Tempo rückt eine Kutsche heran, die Pferde schnauben. Eine Minute zu spät. Eine ganze Minute! Foscari sieht sich zutiefst beleidigt.
Erinnert mich daran, endlich eine eigene Kutsche zu erwerben ...
Die Wagenräder rollen an den Altstadthäusern vorbei, kommen langsam vor der Treppe zum stehen. Der Foscari nimmt den Gehstock unter dem Arm, geht auf das Gefährt zu, macht ein Handzeichen Richtung Kutscher.
Viel Erfolg, Ser!
Kümmert Ihr Euch lieber darum, dass Zio Enrico sich ausnüchtert - und das Haus verlässt ... entgegnet Foscari, steigt dann in die Kutsche ein
In dem Moment, da sich der Staat von seinen kulturellen Fesseln löst – der Kirche, zivilen Institutionen, Sitten und Bräuchen – wendet sich nicht nur der Bauer gegen den Adligen, sondern auch der Arme gegen den Reichen; aus Gleichheit vor dem Recht pervertiert die Vorstellung sozialer Gleichheit. Zuletzt wendete sich gar der Idiot gegen das Genie, weil dieser das Verbrechen begangen hat, anders zu sein als er selbst. - Vittorio Barzoni
Nach all dem Durcheinander im Palazzo Foscari, beschliesst Otrabe seinen Einsatz als Nachtwächter an diesem Abend fortzusetzen. Er vermerkt alles in seinem kleinen roten Büchlein, die Angelegenheiten im Palazzo, die Verrückten welche auf der Suche nach dem Schatz des Bischofs Gotthart waren und weiteres. Folgendes wurde eingetragen
"Den Leichenwagen gerufen, weil man den betrunkenen Sergio angeblich mit dem Fuhrwerk überfahren hat.
Die Feuerwehr gerufen, weil es in der Nähe des Palazzo brannte.
Ein zweites Mal den Leichenwagen gerufen, weil man die zweite Hälfte von Sergio gefunden hat.
Schwangere Frau bekommt Kind auf der Straße, eine Hebamme gerufen. Pfarrer ist zu betrunken, die Taufe abzunehmen.
Die Carabinieri gerufen, da man feststellte, dass Sergio jetzt drei Beine hatte. Wem gehört das dritte Bein?
Einem gescheiterten Liebessänger, mit der Hilfe von viel Butter einen Nachttopf vom Kopf gezogen.
Fünf Zigarren und eine Flasche Wein vom Vater des Kindes erhalten.
Somit Einwohnerzahl konstant, keine Verluste und ein Bein über.
Eingetragen Mittwoch, den 5 Februar."
Zufrieden klappt er das Buch zu und raucht erstmal eine Zigarre.
Bereits eine geraume Zeit auf einer Bank sitzend wartet der NAchtwächter darauf, dass endlich die Carabinieri auftauchen. Neben ihm liegt das gefundene Bein auf dem Boden Also, wenn nicht bald jemand kommt, gehe ich nach Hause. Er klopft die Asche seiner Zigarre auf den Boden. Es ist bereits Morgen, man geht zu seiner Arbeit, zur Schule und ein jeder, auch die Kinder sehen, was dort herumliegt. Otrabe interessiert es wenig wie die Leute reagieren, schließlich ist das hier nicht seine Aufgabe. Aufpassen, dass er nicht brennt, darauf aufpassen, dass niemand einbricht und auch dafür sorgen, dass der Eine oder Andere im Suff nicht in das falsche Haus geht, oder schlicht Fremden eine Auskunft zu geben. Das ist sein Beruf. Dieses abgetrennte Bein zu entsorgen ist es nicht. Kann ich davon ein Stück für meinen Hund abschneiden?
Nein, das ist ein Beweisstück. Das darf ich dir nicht so ohne Weiteres geben. Die Sprüche der Leute interessieren ihn nicht, so kennt man ihn halt, ruhig, freundlich, zuvorkommend. So als ob er nicht zur Familie Krampus gehören würde, das komplette Gegenteil, als wäre er adoptiert.
WILLST DU WOHL ABHAUEN! BLÖDE KATZE! Das ist ein BEWEISSTÜCK!
Nichts tut sich, keiner kommt vorbei, Otrabe, von seinen Freunden schlicht "Otto" genannt, beschließt sich nach Hause ins Bett zu begeben, gerade will er aufstehen, da kommt doch jemand, seine Ehefrau. Sie hat einen Korb dabei, aus dem irgendetwas dampft. Bist du immer noch am Arbeiten? Sie deutet auf das Bein, welches neben ihrem Gatten auf dem Boden liegt. Ein Mord? Das mit Sergio habe ich schon gehört, grausam sowas.
Was hast du dabei? Ist das wieder deine spezielle Suppe, welche ich so liebe? Freudig nimmt er den Korb entgegen, es ist wirklich seine Lieblingssuppe. Sie setzt sich neben ihm und nimmt ihn in den Arm, während er beginnt die Suppe auszulöffeln.
Das da! Er deutet mit dem tropfenden Löffel auf das am Boden liegende Bein.
Ist eine Ordnungswidrigkeit! Das Bein ist fachgerecht amputiert, da gebrochen und die Wunde schwer entzündet. Guck mal dort, da ist Eiter. Trotz des ekelhaften Anblickes löffelt er weiter seine Suppe. Warum schmeißt es der Chirurg dann auf die Straße?
Hat er nicht! *rülps* Das wurde ordnungsgemäß abgeholt und sollte auf dem Friedhof begraben werden, ebenso Sergio. Ich war deswegen extra bei Bernardo, er hat mir bestätigt dass er es amputierte, wollte es aber nicht annehmen. Otrabe putzt sich mit einem mitgebrachten Lappen Suppenreste vom Mund und gibt den Topf seiner Frau zurück. Sergio, was für ein grauenhafter Unfall. Wie war das passiert? Müssten denn da nicht die Carabinieri kommen? Sie gibt ihm ein wenig Rotwein aus einem mitgebrachten Glas.
Rotwein um zehn Uhr morgens? Er muss lachen.
Na gut, gib her. Also, Folgendes war. Der Kutscher, welcher die Damen unserer feinen Gesellschaft nach einer Feier in einem Palazzo, nach Hause bringen wollte, kam auf mich zu, als ich eine der Straßenlampen wieder entzündete. Vor dem Kutschwagen lag eine Hälfte von Sergio. Die Pferde schnüffelten daran herum und waren unruhig. Die Damen waren noch unruhiger, schnüffelten jedoch nicht. Er gibt ihr das Glas zurück, will keinen Wein mehr, sie schüttet jedoch nach.
Ich sehe, du willst alles wissen. Gut, er lag vor den Pferden und vor der Kutsche und war halbiert. Durchgesägt. Ich ging also zu Bernardo dem Chirurgen. Dieser sagte mir, dass Sergio verstorben war und er eine Obduktion durchführen sollte. Er ließ seinen Gehilfen Igor dran, welcher anstatt den Bauch zu öffnen die Leiche durchsägte. Igor bekam entsprechend Prügel und ich den Hinweis, dass irgendwo noch mehr von Sergio herumliegen muss. Daraufhin fand ich die Beine und zwei Straßen weiter einen Sarg.
Der Bestatter holte daraufhin Sergios Überreste ab, aber nicht das Bein hier. Otto? Warum nicht das Bein? Otrabe nimmt aus seinem Glas einen größeren Schluck
Ich habe den Bestatter wegen seines defekten Wagens zur Rede gestellt und auch deswegen, weil er völlig betrunken war. Er fuhr schlicht und ergreifend wutentbrannt davon und vergaß das Bein. Ich meine auch gehört zu haben, dass später abermals irgendwas von einem Wagen gefallen sein muss und die Leute aufgeschrien haben.
Ich will sein Verhalten der Obrigkeit melden, vor allem da er mich "Stronzo" nannte.
Das Ärgerliche ist, ich habe den gesamten Verlauf selbst geklärt, aber die halbe Stadt ist nun am Reden und am Dummes Zeug verbreiten.