Die Jugend des Michele di San Trovaso
Ein anderer Blick auf den letzten Dogen von Palatina
Ein anderer Blick auf den letzten Dogen von Palatina
Michele di San Trovaso ist der Nachwelt – so denn sein Name fällt – zumeist nur in seiner Rolle als Politiker und letzter Doge Palatinas bekannt. Selbst bei dieser nahe liegenden Position bleibt aber selbst die Geschichte hinter diesem Kapitel vielen unbekannt. Und noch unbekannter ist – außerhalb der Fachwelt der Palatinologie – die Person oder das Leben des Herrschers vor seinem Antritt. Dabei sind viele Experten der Meinung, dass gerade durch dieses seine späteren Jahre als Doge der Republik viel erklärlicher werden.
Die Familie di San Trovaso war ursprünglich eine Nebenlinie der Familie di Thesing (di Tesino). Nachdem Raffaele di Tesino e San Trovaso im Jahre 1559 seinen Sitz in Palatina genommen hatte, und nur ein Jahr später in die Schicht der Nobili aufstieg, hatte sich das Problem der Nachfolge- und Erbregelung ergeben. Der ältere Sohn Raffaeles erbte Titel und Ländereien im Stammesherzogtum, der jüngere Sohn den Besitz in Palatina. Die Hauptlinie der di Tesino zog wieder zurück und nahm auch wieder das ursprüngliche schwarze Wappen mit der Goldlilie an, ging aber aufgrund des dortigen Adelstitels ihres Nobile-Status sowie sämtlicher damit verbundenen Privilegien in der Republik verlustig. Die palatinische Linie, welche sich nur noch di San Trovaso nannte, behielt die Ergänzung mit dem Hermelin sowie den Status einer Nobile-Familie. In einem Vergleich zwischen den Enkeln Raffaeles (1612) nach dem Tode des Stammvaters, verzichteten die beiden Linien auf jegliche Ansprüche der jeweils anderen Familie, da eine mysteriöse Reihe von Unfalltoden einen Großteil der Nachfahren auf unerklärliche Weise ins Jenseits befördert hatte. Nach der Unterzeichnung des Vertrages nahm zeitgleich die Auftragsdichte der palatinischen Meuchelmördergilde ab, was zu zahlreichen Spekulationen führte. Aurelio di San Trovaso, dem Ambitionen nachgesagt wurden, das gesamte Familienerbe auf seine Person zu vereinen, hielt den Gerüchten entgegen, dass nun nur noch ein Erbfall durch Heirat das Vermögen erneut vereinen könnte.
Drei Tage später heiratete er seine Cousine Bianca di Tesino. Die Ehe geriet denkbar schlecht, da sie eher von Ehestreitigkeiten als Ehevollzug gezeichnet war, und Aurelio aufgrund der viel zu nahen Verwandtschaft von Rom exkommuniziert wurde. Glücklicherweise starb er kinderlos.
Damit war ab dem 17. Jahrhundert die Weiche für eine neue Familie auf der politischen Bühne gelegt, die direkt in die Auseinandersetzung zwischen den alten und den neuen Nobile-Familien eingriff. Die San Trovaso stellten Senatoren und Dogenberater, sogar ein Admiral der Marine entstammte ihrem Geschlecht. Das Dogenamt blieb ihnen dagegen verwehrt, und mit der Ära der Patrizierdogen waren sie – wie die anderen Nobile-Familien – entmachtet worden.
Als Michele di San Trovaso am 14. Juli 1769 geboren wurde, hatte die Familie zwar ihren Reichtum mehr oder minder halten können, aber ihren Einfluss eingebüßt. Hatte Micheles greiser Urgoßvater Gabriele noch das Jahr 1733 gesehen, und selbst im hohen Alter von über 80 Jahren sich noch mit aller Macht gegen die Entmachtung der Nobili stemmen wollen, so hatte der Großvater Raffaele (genannt „der Jüngere“) bereits nichts mehr unternehmen können. Alle Proteste des Senats hatten nur wenig gegen das Parlament ausrichten können, welches von den Fraktionen dominiert wurde. Obwohl Raffaele von seinem eigenen Vater im politischen Geschäft in allen Feinheiten unterrichtet worden war, hatte diesen der Betrieb ermüdet. Völlig resignieren sollte dann dessen Sohn, der Vater Micheles: Uriele di San Trovaso. Da dieser gesehen hatte, wie Raffaele sich Zeit seines Lebens aufgerieben hatte, zog sich die Familie endgültig auf das Land zurück und wohnte durchweg in der Villa bei San Trovaso.
Michele wuchs daher in recht behüteten Verhältnissen auf, geprägt vom Lebensstil einer vornehmen Familie auf dem Land. Er war dabei nicht von vornherein als Familienoberhaupt vorgesehen, da er nur das zweite von fünf Kindern war. Der ältere Bruder Barachiele sollte ursprünglich diese Position bekleiden. Nach einem Kutschenunglück, bei welchem dieser ums Leben kam, rückte jedoch Michele unverhofft an erste Stelle; Barachiele war damals 10, Michele 8 Jahre alt gewesen.
Daneben hatte Michele noch einen jüngeren Bruder – Angelo – und zwei Schwestern. Mit Angelo verband Michele Zeit seines Lebens ein von tiefer Freundschaft bestimmtes Verhältnis.
Michele mit seinem Bruder Angelo in jungen Jahren
Eigentlich hatte der Vater vor, seinen Sohn völlig auf die Verwaltung der Landgüter und das Leben eines Nobile auf Bällen, Banketten und sonstigen Festlichkeiten vorzubereiten. In gewisser Weise degenerierte die Schicht der Nobili gegen Ende des 18. Jahrhunderts so wie das Staatsoberhaupt; während sich aber einige Sippen bis zu diesem Moment der Dekadenz verwehrt hatte, hielt sie bei den San Trovaso seit Uriele Einzug. Statt aber das Leben völlig der Zerstreuung hinzugeben, trafen sich ausgerechnet bei diesen Gelegenheiten die jungen Nachfolger der damaligen, entmachteten Geschlechter. Es handelte sich um eine neue Generation, eine Generation von Nobili, die den Verfall Palatinas und die Herrschaft der Patrizier nicht länger hinnehmen wollte. Ein Kreis von jungen, aufstrebenden Nobili entstand, welcher sich bald einen Namen geben sollte: die Cavalieri di San Leone, die Ritter von Sankt Leo.
Die Cavalieri waren eine Vereinigung von jungen Nobili, die wieder das Ruder in der Republik übernehmen wollten, sobald sie die Nachfolge anträten. Sie war im Jahr 1784 entstanden, aus aufklärerischen Bewegungen innerhalb Palatinas, die von der Presse dominiert wurde. Der junge Numitore dell’Ulivo war der bedeutendste Vertreter, und scharte im Alter von nur 20 Jahren einige der wichtigsten Nobile-Söhne um sich. Der 14jährige Michele war ebenso darunter wie andere Figuren, deren Namen nicht unvertraut klingen: Gianfranco Capuletti (23 Jahre), Riccardo d’Alano (22 Jahre), Adriano Braccioleone (19 Jahre), Desiderio Vargazza (16 Jahre), Marco Foscari (10 Jahre). Hier entstanden Bekanntschaften (und Seilschaften) welcher später den Nobili wieder die Türen der Politikfähigkeit eröffnen sollten.
Michele di San Trovaso war noch vergleichsweise jung, war aber vom ersten Augenblick bei dieser Gruppe idealistischer junger Männer dabei, die sich wöchentlich zu Besprechungen und Beratungen traf. Gemeinsames Ziel war es, durch die Besetzung von Schaltstellen in der Republik – im Militär, der Gerichtsbarkeit, der Wirtschaft, der Universität, der Kirche – ein so erdrückendes Gewicht zu erwirken, um zuletzt das Parlamento von außen zu stürzen. Danach sollte die Ordnung wieder von Nobili bestimmt werden, allerdings mit Reformen, die in der Tradition des gescheiterten Dogen Ermolao Foscari standen. Die Cittadini sollten Einfluss auf das Parlamento nehmen können – wobei diese Reform aus ganz verschiedenen Gründen ganz unterschiedlichen Nobili genützt hätte (dazu aber der Artikel „Die Cavalieri di San Leone: Verschwörer, Reaktionäre oder Reformer?" in Heft 2).
Aufgrund des Reichtums der Familie di San Trovaso sollte Michele schon in frühen Jahren eine Schlüsselstellung übernehmen, da man hoffte, das Vermögen für diese Zwecke einsetzen zu können. Inwiefern Michele sich hier in seinem jugendlichen Leichtsinn von älteren Mitgliedern der Vereinigung ausnehmen ließ, oder tatsächlich die „Ritter“ unterstützte, bleibt dabei offen. Schon beim Beginn seines Universitätsstudiums sorgte er für eine angemessene Unterkunft aller Sympathisanten der Vereinigung, ob nun Nobili oder Cittadini – und schaffte damit Verbindungen und Kontakte, die noch in der Zukunft nützlich sein sollten.
Uriele di San Trovaso, der Vater, misstraute dem Engagement des Sohnes. Er hatte ihn bereits ursprünglich zu einem möglichst langen, brotlosen Studium gezwungen, damit der Sohn die Flausen aus dem Kopf bekäme und endlich ein lasterhaftes Leben führen konnte, so, wie es vorbildlich war für die Eliten des 18. Jahrhunderts. Dass Michele dort weiter mit den „gefährlichen Leonisten“ (so der Vater) zusammenhing, und sogar Uriele gegenüber äußerte, er wolle Staatsmann werden und etwas leisten, brach dann das Fass zum Überlaufen. Michele wurde nach Frankreich geschickt, um dort endlich zu lernen, „ordentlich dekadent“ zu werden. In einem Brief äußerte der Vater an seinen Sohn:
Hintergrund der plötzlichen Vorbereitungen war auch, dass ein Nobile oder Patrizier Palatinas im Alter von 20 Jahren das Recht hatte, sich in den Senat bzw. das Parlament wählen zu lassen, und damit seine politische Karriere zu beginnen. Micheles 20. Geburtstag rückte in diesem Jahr unweigerlich näher. Da die Cavalieri allerdings eines ihrer wichtigsten Mitglieder kurz vor diesem wichtigen Termin nicht verlieren wollten, heckte dell’Ulivo einen kühnen Plan aus. Im Großen und Ganzen behandelte sie einen Austausch des Reisenden, ohne, dass der Vater oder der Austauschreisende davon erfuhren. So geschah es, dass Michele von dell’Ulivo und Riccardo d’Alano in einem Nacht-und-Nebel-Manöver ausgewechselt wurde, um Tage später sein zwanzigstes Lebensjahr vollenden, und seine politische Karriere beginnen konnte.„Mein lieber Sohn, deine Familie hat in ihrer ganze Existenz davon geträumt, dekadent, rokokohaft und mit viel zu viel Prunk zu leben. Wir wollten schon barock sein, da gab es das Wort nicht. Wir wollten saufen, huren und unsere Kohle verprassen, da hat diese Welt vom 18. Jahrhundert noch nichts gewusst! Du aber entehrst diese Sippe, wenn du nicht endlich dein von irgendwelchen „Zielen“ bestimmtes Leben aufgibst. Werd vernünftig, und denk nicht mehr nach. Viel Spaß in Frankreich.
PS: Ich habe dir Seife eingepackt.
PPS: Es handelt sich um das große Papierknäuel, das die halbe Kutsche einnimmt. Die Verpackung macht’s!"
Leidtragender war Marco Foscari, der zu seiner eigenen Überraschung Tage später aufwachte, nachdem die Karosse gerade Turin passiert hatte.
Einzig eine Kleinigkeit störte das Gesamtbild. Als Michele einen Tag nach seinem Geburtstag die Feierlichkeit ausrichtete, und seine Kandidatur für den Senat bekanntgab, wurde diese von einer unangenehmen Nachricht unterbrochen, welche die Laune auf dem Parkett abrupt trübte:
Die Bastille von Paris war gestürmt worden.